LEBENSGESCHICHTEN und ANSICHTEN
eines Christen

Im Banne des Bösen

Diese Geschichte gibt es auch in einer kürzeren Version: wendepunkte.jimdo.com/k%C3%BCrzere-version-von-im-banne/

Vorwort


Dies ist eine wahre Geschichte, die sich im Jahre 1985 ereignete. Ich war damals ein normaler Student ohne allzu große materielle Sorgen, aber nicht zufrieden mit meinem Leben. Etwas schien zu fehlen.
Wenn mich jemand gefragt haben würde: "Wieso bist du eigentlich so unglücklich?", würde ich vermutlich mit meinen Schultern gezuckt und gesagt haben: "Ich weiß es nicht!"
    Letztlich kam es zu dem Punkt, dass ich mir eingestehen musste: "Ich kann nicht so weitermachen. Ich muss etwas in meinem Leben ändern!"
Und so entschied ich mich am Neujahrstag 1985 mein Alltagsleben zu unterbrechen und mir eine Auszeit zu nehmen. Ich wollte einmal gründlich über das Leben im Allgemeinen nachdenken. Und vielleicht würde ich auch Möglichkeiten für eine bessere und glücklichere Zukunft entdecken. Ich war erst 27 Jahre alt und noch jung genug, um das Glück im Leben zu finden. Auf jeden Fall hoffte ich das!

 

                                                                     1.Die Suche

                                                                  Eine Auszeit

Damals lebte ich am Stadtrand von Düsseldorf in einer kleinen, möblierten Wohnung. Meine Vermieter, ein älteres Ehepaar, wohnten unter mir im Erdgeschoss. Es waren sehr freundliche, liebenswürdige Menschen, die mich gelegentlich zu Kaffee und Kuchen auf ihre Terrasse einluden.
    Während der Sommerzeit erlaubten sie mir ihren großen Garten mit zu benutzen. Beispielsweise mir auch Obst für meinen eigenen Bedarf zu sammeln. Obstbäume und Beerensträucher der verschiedensten Art gab es hier in einem solchen Überfluss, dass es mich manchmal an eine Obstwiese aus meinen Kindertagen erinnerte.
    Aber heute, am Neujahrsmorgen, war es tiefster Winter.  Ich hatte gerade gefrühstückt und blickte etwas trübsinnig hinunter in den Garten. Wie kahl und leblos alles aussah! Irgendwann würde es auch in meinem eigenen Leben “Winter” werden. Und dann der unvermeidliche Tod kommen. 

Mir fiel mir eine Begebenheit aus meiner Jugendzeit ein. Während einer Rundreise durch Jugoslawien hatte ich einmal vor einer riesigen Skulptur gestanden. Sie stellte die Menschheit in einer schier endlosen Abfolge von Generationen dar.
   Was war dies für ein Schock gewesen. Zum ersten Mal erfasste ich für einen kurzen Moment vollständig,  dass ich nur ein ganz kleines Teilchen in der langen Menschheitsgeschichte war. Geboren um eine kurze Zeit zu leben und dann zu sterben. So wie viele andere vor mir ihr kurzes Leben gelebt hatten und dann gestorben waren. Und dann hatte ich mir zum ersten Mal jene entscheidende Frage gestellt "Wenn das Alles ist, macht das Leben dann überhaupt einen Sinn?"


 
Vielleicht hat jemand  schon einmal versucht sich für eine Weile wie ein Einsiedler in seine eigenen vier Wände zurückzuziehen.  Dann wird er (oder sie) gemerkt haben, dass dies nicht so einfach ist wie es sich vielleicht anhört. Ohne eine gewisse Tagesstruktur kann man da schnell ins Grübeln geraten und schließlich in einer Depression landen. Um dem vorzubeugen beschloss ich, die meiste Zeit des Tages mit Lesen zu verbringen.
    Damals besaß ich eine mehrbändige Gesamtausgabe von Hermann Hesse. Ich hatte sie in meiner Jugendzeit schon einmal durchgelesen. Aber in so oberflächlicher Art und Weise, dass so gut wie nichts in meiner Erinnerung haften geblieben war.
   Nun nahm ich mir vor sie noch einmal, dieses Mal aber  gründlicher, durchzulesen. Vielleicht würde ich ja da neue Einsichten oder sogar Impulse für meine Glückssuche und eine bessere Zukunft erhalten. Und so las ich meist den ganzen Vormittag hindurch. Und dann später am Nachmittag noch einmal vor oder nach meinem üblichen Spaziergang in der näheren Umgebung meiner Wohnung.

Der Abend gehörte dann der reinen Muße.  Bei gefälliger Musik versuchte ich über mich und das Leben nachzudenken. Was allerdings zugegebenermaßen oft wenig ergiebig war. Meist verlor ich mich dann doch in unklaren und ziellosen Gedanken, Träumereien oder dumpfen Gefühlen. So dass ich  dann irgendwann abbrach und mich Schlafen legte.
    Einmal in der Woche kaufte ich im nahegelegenen Supermarkt einige Lebensmittel ein. Dabei  vermied ich aber tunlichst jeglichen Kontakt mit Anderen. Diesen Punkt nahm ich sehr genau, denn für eine Weile wollte ich wirklich so weit wie möglich isoliert von meiner Umwelt sein.
    Aus dem gleichen Grunde verschärfte ich auch meine Medienabstinenz.. Radio und Fernsehen hatte ich sowieso schon seit Längerem abgeschafft. Und nun verzichtete ich auch noch auf das gelegentliche Lesen der Tageszeitung. Es sollten einfach keine Informationen von der Außenwelt zu mir vordringen. Ich wollte einmal in meinem Leben nur auf mein Inneres acht geben und hören.

Gelegentlich wanderten meine Gedanken zurück in meine Kindheit. Und dies hatte durchaus einen plausiblen Grund. Denn die Zeit zwischen meinem dritten und siebten Lebensjahr war eindeutig die glücklichste meines Lebens gewesen. Vielleicht lag hier ja auch der Schlüssel für mein zukünftiges Glück!?
     Damals, nach der Scheidung meiner Eltern, war meine Mutter mit mir in die Wohnung ihrer Eltern zurückgezogen. Was sich für mich als ein echter Glücksfall herausstellen sollte. Es da gab es wirklich nichts, was mir fehlte. Meine Großeltern waren einfache Leute und beide von sehr gutartiger Natur. Ich fühlte mich wohl und geborgen in ihrer Nähe.
    Aber ich war auch kein Stubenhocker! Ich liebte es, meist zusammen mit meinem Freund Elmar, die nähere Umgebung mit den kleinen Hügeln, Teichen und Pfaden zu erforschen. Oder zusammen mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft die normalen Kinderspiele wie Verstecken, Fangen, Räuber und Gendarm und verschiedene Ballspiele zu spielen.

Später mit sieben ging ich in die nahegelegene Dorfschule. Ich erinnere mich noch heute an die riesigen Kastanienbäume. Im Herbst sammelte ich die rotbraunen Kastanien und zuhause bastelte ich zusammen mit meiner Mutter daraus kleine Tierfiguren. Seltsam, dass man sich an so scheinbar unwichtige Details  noch zwanzig Jahre später erinnerte.
     Das Ende meiner glücklichen Kindheit kam dann schnell und überraschend. Zuvor aber wurde das Füllhorn des Glücks noch einmal einige Wochen überreichlich über mich ausgeschüttet. Meine Mutter hatte erneut geheiratet und verbrachte mit ihrem neuen Lebensgefährten, ich nannte ihn „Onkel Horst“, ihre Flitterwochen in Südfrankreich. Während dieser Zeit, also in meinen ersten großen Schulferien, wurde ich bei Verwandten auf dem Lande untergebracht. Ein glückliche Entscheidung, wie sich herausstellen sollte.
   Onkel Willi, der Bruder meines Großvaters, und Tante Maria waren wirklich sehr liebenswerte und gutmütige Menschen und ich fühlte mich bei ihnen vom ersten Moment an wohl. Sie lebten alleine in einem kleinen Bauernhaus mitten in einer waldreichen Gegend. Die schon erwähnte Obstwiese lag hinter dem Haus. Jeden Morgen und jeden Abend kamen Hirsche und Rehe aus dem nahegelegenen Wald und aßen einige der am Boden liegenden Früchte. Für mich jedes Mal wieder ein zu bestaunendes Wunder.
     Morgens ging es meist mit Tante Maria und einem großen Korb in den Hühnerstall. Es erstaunte mich jedes Mal aufs Neue, dass da frische weiße oder braune Eier waren. Nachmittags stromerte ich oft in der Gegend umher oder schaute Onkel Willi bei seiner Lieblingsbeschäftigung,  der Gartenarbeit, zu.
       In jenen Tagen fühlte ich mich vollständig geborgen und geliebt. Und war eins mit der Natur und meiner Umwelt. Ich war in meinem ganz persönlichen Paradies angekommen und verlebte glückliche Tage dort. Vielleicht die glücklichste Zeit meines Lebens!

Aber eines Tages, am frühen Nachmittag, blickte ich zufällig aus dem Fenster der Wohnstube und erschrak. Wie angewurzelt stand ich auf meinem Platz. Draußen sah ich meine Mutter und "Onkel Horst" vor dem Haus stehen. Tief gebräunt und gut gelaunt unterhielten sie sich angeregt mit Onkel Willi .
    Ich hatte ihre Existenz komplett vergessen. Aber mir war natürlich sofort klar, was ihr Kommen zu bedeuten hatte. Augenblicklich erfasste mich eine tiefe Traurigkeit. Hatte ich tatsächlich geglaubt, dass ich für immer hier im Paradies bleiben dürfte?
     Da legte sich von hinten sanft eine Hand auf meine Schulter. "Du wusstest, dass es einmal ein Ende haben würde", hörte ich Tante Maria sagen. Nun legte sie beide Hände auf meine Schultern und drehte mich zu sich herum. Und sie schaute mir direkt  ins Gesicht:" Es sind deine Eltern und sie lieben dich!"
      Sie zog mich an sich, streichelte mein Haar und sagte: "Es war wirklich eine schöne Zeit hier mit dir. Onkel Willi und ich werden dich sehr vermissen!" Und nach einer kurze Pause: "Vielleicht darfst du ja nächsten Sommer wiederkommen." Dann  umarmte sie mich herzlich und sagte: "So, und nun lass uns nach draußen gehen und deine Eltern begrüßen!"
      Als ich wenig später durch das Rückfenster von Onkel Horsts Wagen das Bauernhaus aus den Augen verlor, wusste ich plötzlich wie in einer Eingebung, dass ich niemals wieder hierher zurückkehren würde. Mein kleines „Paradies“ war für immer verloren gegangen!

Das Schwelgen in diesen Erinnerungen machte mich allerdings nicht wirklich glücklich. Führte es mir doch deutlich vor Augen, wieweit ich von jenem glücklichen Zustande aus Kindertagen mich entfernt hatte. Und ich den Weg zu einem neuen, anderen Glück bislang nicht gefunden hatte.
    Auch die Bücher von Hesse brachten mich da eigentlich nicht viel weiter. Was im Grunde genommen bei solch einem Melancholiker auch nicht sonderlich überraschte.Die Botschaft in seinen Büchern schien mir ungefähr so zu lauten:" Erwarte nicht zu viel vom Leben. Sei bescheiden, beherrsche deine Wünsche und Sehnsüchte, und führe ein mehr oder weniger maßvolles,  asketisches Leben! Dann wirst du vielleicht eines Tages ein einigermaßen zufriedener Mensch werden!"
     Ein asketisches Leben führen und dann bestenfalls ein wenig Zufriedenheit? Ganz ehrlich, das war mir als „Glücksversprechen“ einfach zu wenig zu sein! Ich wollte ein erfülltes, glückliches Leben! Gleichzeitig nagte aber doch der Zweifel an mir. Vielleicht hatte Hesse ja recht und meine Suche würde vergebens sein.
     "Vergebens?" Ich fühlte einen kleinen Anflug von Angst. "Ein Leben ohne Glück?" Der Gedanke war wirklich schwer zu ertragen. "Ich muss es versuchen!" sagte ich zu mir selbst. "Selbst auf die Gefahr hin, dass ich das Glück niemals finden werde!"

Nach etwa vier Wochen beendete ich meine Auszeit. Sie hatte zwar nicht zu dem erhofften Ergebnis geführt, aber mir doch klarer gemacht, dass ich mich nicht mit einem normalen, langweiligen Leben zufrieden geben wollte. „Ich werde mich jetzt neu ins Leben verstricken und vielleicht kommt mir ja der Zufall zu Hilfe!“, sagte ich zu mir selbst, um mir ein wenig Mut zu machen.

 

                                                Eine überraschende Begegnung

In den darauffolgenden Tagen passierte nichts Besonderes. Es war Winterzeit und das Wetter war oft schlecht. Deshalb entschied ich mich eines Tages mein Fahrrad stehen zu lassen und mit dem Bus zu fahren.
   An der Bushaltestelle hatte ich einige Zeit zu warten und, um mich durch Bewegung ein wenig aufzuwärmen, ging ich einfach los in Richtung nächster Haltestelle. Dabei kam ich an jenem kleinen "Hexenhäuschen" vorbei, welches mir schon einige Male im Vorbeifahren aufgefallen war.
    Ich hatte es "Hexenhäuschen" genannt, weil es in seinem verwittertem Zustande mit dem etwas lädierten Dach und einem leicht verwilderten Vorgarten an eben jene Bilder in den Märchenbüchern erinnert hatte.

War es einfach nur Neugierde oder doch eine gewisse magische Anziehungskraft solcher Orte, auf jeden Fall blieb ich stehen und blickte auf das am Zaun angebrachte Namenschild. Zu meiner Überraschung las ich da: M. Bolte. Ich kannte einen Michael Bolte. Einige Jahre zuvor hatte ich mit ihm bei einer Uni-meisterschaft im Schach in derselben Mannschaft gespielt. Aber danach hatten wir den Kontakt verloren. War es möglich, dass er hier ganz in meiner Nähe wohnte?
    Ich war versucht, es direkt herauszufinden. Aber dann gewann doch die Vernunft die Oberhand. Wenn wirklich jener Michael hier lebte, würden wir uns vermutlich früher oder später sowieso zufällig über den Weg laufen. Ich lächelte in mich hinein: Gut, ich werde dem Schicksal eine Chance geben und nichts unternehmen, bis ich ihn zufällig treffe!

Seltsam, eigentlich glaubte ich damals gar nicht an so etwas wie Schicksal oder Fügung! Aber es waren in  den zurückliegenden Jahren doch einige Dinge geschehen, die mit reinem Zufall nicht zu erklären waren. Da musste noch etwas Anderes dahinter gesteckt haben. Ja, und hatte nicht auch Hesse einen gewissen Hang zum Schicksalsglauben gehabt? Zumindest gab es da in seinen Büchern einige Andeutungen in dieser Richtung. Ich blickte noch einmal zu dem ruhig daliegenden "Hexenhäuschen" hinüber und nahm dann wieder meinen Fußmarsch auf.


Vielleicht eine Woche später war ich wieder mit dem Bus in die Stadt unterwegs. Ich hatte mich ganz nach vorne gesetzt und blickte recht gelangweilt aus dem Fenster.
An der nächsten Bushaltestelle stieg ein junger Mann zu, bezahlte seinen Fahrschein und ging dann nach hinten durch. Gerade als er bei mir vorbeiging blickte ich beiläufig in sein Gesicht. Im nächsten Augenblick schoss mir durch den Kopf: "War er das? War das der Michael?"
    Es war immerhin schon einige Jahre her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Wenn nicht, so sah er ihm aber auf jeden Fall sehr ähnlich. Ich überlegte kurz, dann stand ich auf und ging nach hinten durch. Als ich schon recht nahe bei dem Mann war, schaute er mich plötzlich erstaunt an. Für einen Moment schien er zu rätseln, dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht: "Heiner?" Ich nickte und setzte mich neben ihm.

Innerhalb von zwei Minuten wurde klar, dass er seit über zwei in einem Teil des kleinen "Hexenhäuschen" wohnte. „Das ist erstaunlich!", sagte ich. "Wir haben ein halbes Jahr lang so nahe beieinander gewohnt und sind uns noch nie begegnet!" "Ja, schon", entgegnete er. "Aber ich bin auch die meiste Zeit zuhause. Und wenn ich in die Stadt fahre bin ich immer mit meinem Fahrrad unterwegs. Aber," er zeigte auf ein vor ihm auf dem Sitz liegendes Hinterrad, "es ist kaputt und ich muss jetzt zum Fahrradhändler. Normalerweise nehme ich nie den Bus!"
    "Ich auch nicht!" sagte ich. "Aber manchmal im Winter doch. Ich hatte einfach keinen Bock aufs Fahrrad bei diesem kaltnassen Mistwetter!" So, war dies Treffen jetzt jene schicksalhafte Fügung, die ich mir erhofft hatte? Oder doch nur purer Zufall? Es war kaum eine Woche vergangen seit ich sein Namenschild am Gartenzaun gelesen hatte.

"Du musst wirklich mal bei mir zuhause vorbeikommen!" hörte ich ihn sagen. Meine Gedanken kehrten augenblicklich in die Gegenwart zurück. "Ja, danke! Ich werde auf jeden Fall demnächst mal bei dir vorbeischauen."
     Er stand auf und ich ließ ihn vorbei. "Aber nicht vergessen! Du bist herzlich willkommen!" Der Bus hielt und er winkte noch einmal kurz, bevor er hinaus in den grauen Wintertag marschierte.

Eine offene Tür

Die darauf folgende Woche verlief ohne besondere Vorkommnisse. Aber dann ging ich zu dem kleinen "Hexenhäuschen". Als ich ankam, sah ich einen Lichtschein durchs Vorderfenster schimmern. Michael schien zuhause zu sein.
   Zwei Minuten später stand ich dann tatsächlich in seiner Wohnung. Ich staunte nicht schlecht. Seine Wohnung war wirklich recht karg möbliert. In dem großen Raum im Erdgeschoss mit eingebauter Küche gab es im Wesentlichen nur einen großen Tisch, zwei Stühle und einen Sessel. An einer anderen Wand stand ein größerer Schrank, an einer anderen ein alter Kohleofen, der aber nicht an war.
    Als ein wohlerzogener Mensch verbarg ich meine Überraschung. Ich fragte ihn nur: Frierst du nicht?" "Nein, eigentlich nicht!" antwortete er mit einem Achselzucken." Der Ofen ist die meiste Zeit aus. Ich muss sparen! Wenn es mir mal zu kalt wird, ziehe ich einfach noch einen zweiten Pullover an oder lege mich ins Bett." Er zeigte mit dem Finger zur Decke: "Da oben ist mein Schlafzimmer!"
    Vielleicht mochte er in meinem Gesicht meine Gedanken gelesen haben, denn plötzlich lachte er und sagte:" Keine Sorge! Du brauchst nicht zu frieren! Ich gehe gleich mal in den Schuppen und hole ein bisschen Holz und ein paar Briketts!" Er platzierte den Sessel neben den Ofen und sagte: "Setz dich schon mal hierher!"

Zehn Minuten später brannte der Ofen und ich hielt einen Becher mit heißem Tee in meinen Händen. Michael hatte sich mir gegenüber auf einen Stuhl gesetzt, ebenfalls mit Becher Tee in der Hand: "So, Heiner, dann erzähl doch mal, was sich alles in den letzten Jahren so bei dir ereignet hat!" Mittlerweile war es draußen schon dunkel geworden und der Ofen neben mir hatte sich schon ziemlich erwärmt. Ich begann mich langsam wohl zu fühlen. Und so begann ich aus meinem Leben zu erzählen.
     Michael erwies sich als ein wirklich guter Zuhörer. Er unterbrach mich selten, stellte ab und zu eine interessierte Nachfrage oder gab gelegentlich einen kurzen, meist treffenden Kommentar ab.
    Als ich das Ende meiner Geschichte erreicht hatte, war es für eine Weile still im Raum. Ich fühlte mich jetzt doch leicht depressiv. Dies war meist der Fall, wenn ich jemandem aus meinem Leben berichtete. Dann stand mir wieder meine Misere vor Augen. Um dieses unangenehme Gefühl nun wieder loszuwerden, fragte ich Michael: "Und, wie war es bei dir in den letzten Jahren?"
    Ehrlich gesagt erwartete ich jetzt nicht viel Interessantes zu erfahren. In meiner Erinnerung war er jetzt nicht eine sonderlich interessante Person erschienen. Eher als ein netter, zurückhaltender Mensch! Aber stille Wasser sind oft tief! Und dies erwies sich hier auch. Schon nach kurzer Zeit hörte ich ihm aufmerksam zu.

Michael hatte mit vielen gesellschaftlichen Normen gebrochen. Er führte, wie schon angedeutet, ein recht zurückgezogenes und einsames Leben mit wenig Interesse an Geld oder materiellen Luxus. Er liebte das einfache Leben und man hätte ihn durchaus als einen Asketen bezeichnen können.
    
Aber da war noch etwas Anderes, was sein Leben kennzeichnete "Die wirklich interessanten Dinge liegen außerhalb unserer normalen Existenz! Um sie in Erfahrung zu bringen, musst du hinter den Vorhang blicken, Heiner!", sagte er in einem ziemlich überzeugenden Tonfall.
      Ich schaute ihn etwas überrascht an: "Ich soll hinter den Vorhang schauen? Was meinst du damit?" Er lächelte wissend: "Ich denke, dass du das Leben, wie die meisten Menschen hier in Deutschland, nur innerhalb der üblichen drei Dimensionen betrachtest. Und dabei etwas Wesentliches vergessen!" Ich schaute ihn fragend an. "Sie übersehen die vierte Dimension! Die Spiritualität!" sagte er mit ernstem Nachdruck in der Stimme. Dann stand er auf und fragte freundlich: "Noch eine Tasse Tee?"

Für den Rest des Abends hatten wir nun unser Thema gefunden. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich jemanden ein asketisches Leben führen sah auf der Basis eines spirituellen Konzeptes. Er bezeichnete sich selber mehrfach als "Esoteriker" oder Anhänger der "New Age" Bewegung. Natürlich hatte ich diese Begriffe schon vorher mal gehört, konnte aber eigentlich nicht viel damit anfangen.
    Wie sich im Laufe des Abends herausstellte, glaubte er an die Reinkarnation. Also die ständige Wiedergeburt einer Seele bis zur endgültigen Erleuchtung und den Eingang ins Nirwana. Infolge des Karmagesetzes,- gutes oder schlechtes Handeln im jetzigen Leben haben Auswirkung auf das darauffolgende-, kann man an der Zahl seiner Wiedergeburten sozusagen konstruktiv mitwirken.
     Darüber hinaus glaubte er auch an Astrologie und die "Macht" der Sterne. Also dass man in ihnen ein Stückweit die Zukunft erkennen könne und der Charakter und die Fähigkeiten eines Menschen durch die Sternenkonstellation in der Geburtsstunde festgelegt werden.

Ein anderer wichtiger Teil seines spirituellen Lebens bestand im Legen von Tarotkarten. Er war überzeugt, dass er durch sie viele Dinge über sich und zukünftige Entwicklungen in seinem Leben in Erfahrung bringen konnte. Was ihn dann auch bei den kleinen und großen Entscheidungen seines Lebens beeinflusst haben dürfte.
    Ich war wirklich beeindruckt. Er hatte die Gabe diese Dinge einem überzeugend und verständlich zu erklären, so dass ich ab einem gewissen Punkt aufhörte zu argumentieren und ihm zu glauben begann. Es schien mir auf jeden Fall logischer und klarer als mein eigenes Lebenskonzept. So warum dem neuen jetzt nicht eine Chance geben?
     Schließlich sagte ich zu ihm: "Michael, ich habe es wirklich noch nie in dieser Art und Weise gesehen. Aber es ergibt einen Sinn. Es ist jetzt schon spät, aber ich möchte mehr über diese vierte Dimension hören. Wir sollten uns darüber noch einmal unterhalten!"
     Er lächelte zustimmend und holte ein Buch aus seinem Schrank: "Hier! Das leih ich dir aus. Darin kannst du bis zum nächsten Mal lesen. Da stehen alle Dinge drin, über die wir heute Abend gesprochen haben." Und an der Türe fügte er noch hinzu: "Und lass dich bald mal wieder sehen!"

Auf meinem Weg nach Hause durch die klare, kalte Winternacht gingen mir natürlich viele Dinge durch den Kopf. Irgendwann blieb ich plötzlich stehen und schaute hinauf zu den Sternen. Ich nickte: "Ja, da mag es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde geben, als man gemeinhin so annimmt. Vielleicht sollte ich dem wirklich eine Chance geben!" Und dann schaute ich auf das Buch, das Michael mir mitgegeben hatte. Und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass sich eine große Tür mit Namen "Esoterik" für mich geöffnet hatte. Und plötzlich war ich fest entschlossen durch sie hindurchzugehen!

 

 

                                   2. Eine unglaubliche Entdeckung

 
                                           
Esoterische Studien

In den folgenden Wochen las ich häufig in Buch, dass Michael mir mitgegeben hatte. Vor meinen Augen tat sich eine völlig neue Welt auf. Ich sog alles in mich auf wie ein ausgetrockneter Schwamm, der plötzlich in einen Eimer Wasser getaucht wird.

Als ich Michael das nächste Mal besuchte, war der natürlich hocherfreut über meine Entwicklung. Er versorgte mich gleich mit neuem Material, insbesondere über die Bedeutung der einzelnen Tarotkarten. Und er ermutigte mich, es einfach auch einmal auszuprobieren. Dies machte ich dann irgendwann auch, ohne aber da nennenswerte Resultate zu erzielen. Was mich aber nicht davon abhielt, da theoretisch und praktisch weiter am Ball zu bleiben.

Auch ließ ich mir von einem mit Michael befreundeten Astrologen ein Geburtshoroskop erstellen. Das war schon recht interessant zu sehen, in welchen "Häusern" die meisten Planeten bei mir standen. Und Michael gab mir dazu auch einige Erklärungen. Alles schien so neu, aufregend und verheißungsvoll. Hatte ich jetzt völlig unerwartet meine "Glücksmine" gefunden.

Als mein Wissen und meine Erfahrung etwas zugenommen hatten, begann ich auch Anderen davon zu erzählen. Sie staunten meist nicht schlecht, aber mieden es dann aber doch sich näher damit zu befassen. Ich war jetzt aber nicht mehr zu stoppen und überzeugt, dem Rätsel des Lebens auf die Spur gekommen zu sein. Hätte ich damals geahnt, dass mich dieser Weg in eine tiefe existentielle Krise, ja an den Rand eines Abgrundes, bringen würde, hätte ich meine Beschäftigung mit jenen esoterischen Dingen augenblicklich gestoppt. Aber dem Menschen ist meist die Sicht in die Zukunft verwehrt.

 "Der Mensch geht auf seinem Wege voran, ohne dessen Ende zu kennen. Meist erst hinterher, im Rückblick, versteht er besser und erkennt den Sinn!"

         

                                                        Der Besuch          

Der Winter ging vorbei und der Frühling hielt Einzug ins Land. Eines Tages im April hatte ich nichts Besonderes zu tun, und so entschloss ich mich ein junges Ehepaar am anderen Ende der Stadt zu besuchen. Elke und Peter hatte ich ein Jahr zuvor auf einem Schachturnier kennen gelernt.
 Sie hatten mich schon dreimal eingeladen sie in ihrer Wohnung zu besuchen, aber bislang hatte ich nie so rechte Lust verspürt und war dann auch weggeblieben.

Als ich nun nach einer längeren Fahrradfahrt unangemeldet bei ihnen auftauchte, hießen sie mich dennoch herzlich willkommen. Und wir hatten eine wirklich gute Zeit mit Essen, Trinken und Gesprächen über dies und jenes

Ich hatte nicht unbedingt vorgehabt, mich mit ihnen über meine jüngsten esoterischen Erkenntnisse und Erfahrungen zu unterhalten, aber nach einer Weile geschah es dann doch. "Wovon das Herz voll, davon fließt der Mund über!" sagt der Volksmund. Und hier stimmte es!

Beide hörten mit Interesse zu, aber ihre Reaktionen am Ende waren unterschiedlich. Peter schien seinem Gesichtsausdruck zufolge eher skeptisch zu sein, sagte aber nichts weiter dazu. Elke hingegen schien recht begeistert: " Das hört sich wirklich spannend an!" Und fügte dann geheimnisvoll lächelnd hinzu: "Später werde ich dir etwas zeigen, das wird dich bestimmt sehr interessieren!" Nun lachte auch Peter leicht gequält und meinte: "Du wirst überrascht sein!" Dann wechselten wir das Thema.

Etwa gegen 23 Uhr ging Peter dann zu Bett. Er musste frühmorgens aufstehen und zur Arbeit gehen, so dass er jetzt auch nicht über die Stränge schlagen wollte. Elke und ich blieben aber noch auf. Sie war eine Studentin und konnte, genau wie ich, in den Vormittag hinein schlafen.

Inzwischen hatten wir auch geklärt, dass ich dableiben und später im Wohnzimmer auf dem Sofa übernachten würde. Aber noch waren wir beide putzmunter! Elke brachte das Geschirr in die Küche und räumte dort ein wenig auf. Als sie zurückkam lächelte sie mich an und ich lächelte zurück. Es war klar, dass nun der Zeitpunkt für Elkes Ankündigung gekommen war.

Fünf Minuten später saßen wir nebeneinander im Wohnzimmer am großen Esstisch. Vor uns lag ein großer, unbeschriebener Papierbogen. Darauf stand ein kleines Mini-Tischchen von vielleicht 10x15 Zentimetern. An einem der Beinchen war ein Bleistiftstummel befestigt, so dass dessen Spitze den Papierbogen berührte.

Ich schaute die ganze Vorrichtung mit einer gewissen Skepsis an. Elke schaute mich fragend an: "Bist du bereit? Können wir anfangen?" Ich nickte, gespannt darauf, was nun passieren würde.

Eine halbe Stunde später hatte ich eine Erfahrung gemacht, die meine Sicht der Welt grundlegend verändern sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich, trotz gewisser esoterischer Einsichten, nur in der allgemein bekannten dreidimensionalen Welt bewegt. Aber nun hatte ich mit Elke eine unsichtbare Grenze überschritten und wir hatten Kontakt mit einer vierten Dimension gehabt. Was war geschehen?

Als Elke aus der Küche zurückgekehrt war, hatte sie mich gefragt: "Heiner, könntest du dir vorstellen, mit einer verstorbenen Person in Kontakt zu treten?" Ich hatte sie erstaunt angeschaut: "Du glaubst, dass das möglich ist?"

Sie hatte mehrfach genickt und begeistert ausgerufen: "Ja, das ist es!" Und dann erzählte sie mir, dass sie schon des Öfteren zu ihrem verstorbenen Onkel Kontakt gehabt hätte. „Aber wie soll das funktionieren?" fragte ich skeptisch und neugierig zugleich. Da hatte sie mich vielsagend angelächelt: "Okay, wenn du willst, zeig ich es dir!" Ich nickte: "Gut, zeig es mir!"

So hatte sie den Papierbogen und das Mini-Tischchen mit dem kleinen daran befestigten Bleistift aus einem Schrank geholt, und hatte Beides auf dem Esstisch abgelegt. Dann hatten wir uns nebeneinander hingesetzt. Sie hatte mir zugeflüstert:" Ich werde ihn jetzt rufen. Wenn er da ist, wird er mittels des kleinen Tischchens antworten." Sie berührte es mit ihrer Hand: "Es wird sich gleich bewegen und der kleine Bleistift schreibt dann die Antwort auf das Papier."

Ich war jetzt doch ziemlich still, fast andächtig, geworden: "Weiß Peter eigentlich, dass du das hier machst?" Sie grinste: "Ja, er weiß Bescheid! Aber er mag es nicht und so mache ich es nur dann, wenn er nicht da ist." Sie legte ihre Hand auf meinen Arm: "Du brauchst keine Angst zu haben. Schau einfach nur zu!" "Gut", sagte ich, "lass uns anfangen!"

So rief sie in den Raum hinein: "Onkel, bist du da? Melde dich doch bitte!" Nichts geschah. Sie hatte gerade zum vierten Mal den "Onkel" angerufen, als sich das kleine Tischchen plötzlich wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt in Bewegung setze. Elke jubelte auf: "Siehst du, wie sich das Tischchen bewegt? Habe ich es dir nicht gesagt? Er ist da!"

In der folgenden halbe Stunde wurde ich nun Zeuge des seltsamsten Gespräches, was ich jemals erlebt hatte. Elke stellte die verschiedensten Fragen an ihren unsichtbaren "Onkel", der dann mittels des kleinen Tischchens in gut lesbarer Schrift antwortete.

Nachdem dieses Frage- und Antwortspiel schon eine ganze Weile angedauert hatte, beugte Elke sich plötzlich zu mir rüber und sagte: "Los, Heiner, jetzt stell du ihm mal eine Frage!" Ich hatte mich mittlerweile auf meinem "Beobachterposten" ganz gut eingerichtet und hatte fasziniert das Geschehen mit einem gewissen inneren Abstand verfolgt. So war jetzt im ersten Moment leicht geschockt als Elke mich so direkt ansprach. Ich gab zu Bedenken: "Aber ich kenne ihn doch gar nicht!"

Aber Elke akzeptierte das nicht: "Ach, das macht doch nichts. Er ist ganz nett und wird dir bestimmt antworten. Sicherheitshalber fragte sie dann aber doch beim "Onkel" nach, ob er einverstanden sei. Die Antwort kam prompt und lautete kurz und knapp: "Ja!" Und so stellte ich dann die erstbeste Frage, die mir gerade in den Sinn kam. Das kleine Tischchen setzte sich augenblicklich in Bewegung und ich konnte die Antwort dann auf dem Papierbogen lesen. Elke grinste triumphierend: "Siehst du! Er hat dir geantwortet!"

Wie ich schon sagte, sollte dieses Erlebnis meine Sicht auf die Welt komplett verändern! Zum ersten Mal hatte ich einen klaren und eindeutigen Beweis, dass es "hinter dem Vorhang" eine andere unsichtbare, belebte Welt gab! Ich hatte an diesem Abend einen persönlichen Riesenschritt gemacht, ohne allerdings zu ahnen, dass dies ein Schritt in Richtung eines tiefen und schauerlichen Abgrundes war!

 

 

                                                 Nicht mehr "allein"!

Nach diesem unglaublichen Abend bei Elke und Peter lief erst einmal alles wie gehabt weiter. Ich fuhr gelegentlich zur Uni, las eifrig in meinen esoterischen Büchern und besuchte ab und zu Freunde. Tatsächlich hatte ich fast jene außergewöhnliche Begebenheit in Elke und Peters Wohnzimmer vergessen.

Aber eines Abends zuhause war mir ziemlich langweilig, als es mir wieder einfiel. Und plötzlich kam mir eine faszinierende Idee: "Wenn Elke mit ihrem verstorbenen Onkel in Kontakt treten kann, warum sollte dies nicht auch mit meinen verstorbenen Verwandten funktionieren?"

Diese Aussicht versetzte mich in helle Begeisterung. Ich öffnete meinen Schrank und holte einen großen Bogen Papier heraus. Den legte ich dann auf den Wohnzimmertisch. Was brauchte ich noch? Ach ja, das kleine Tischchen.

In der Küche fand ich etwas Passendes und bastelte daraus ein kleines Tischchen, ähnlich dem, welches ich bei Elke gesehen hatte. Dann befestigte ich einen kleinen Bleistift daran und stellte ihn auf den Bogen Papier. Dann setze ich mich davor und wartete schweigend ab, was passieren würde.

Es mögen ein oder zwei Minuten vergangen sein, als sich plötzlich das kleine Tischchen langsam zu bewegen begann. Ein freudiger Schauer lief durch meinen Körper. Ich verfolgte mit meinen Augen die Schrift auf dem Papier. Plötzlich stoppte das Tischchen abrupt und ich las:"Hallo_Heiner_hier_ist_Onkel_Willi!"

15 Minuten später war mein erster eigener Kontakt mit der unsichtbaren Welt beendet. Ich hatte mich nicht nur mit "Onkel Willi" unterhalten, sondern auch "Tante Maria" war noch hinzugekommen. Und sie hatten mir mitgeteilt, dass im Hintergrund noch andere Verwandte wären, wie zum Beispiel mein toter Großvater und "Onkel Fritz". Auch die beiden hatte ich zu Lebzeiten sehr gemocht.

Während der Sitzung hatte ich eine Mischung aus Freude, Neugier und Anspannung empfunden. Jetzt musste ich diese Erfahrung einfach mit jemanden teilen. Obwohl es schon später Abend war, fuhr ich mit meinem Fahrrad zu einem Freund.  Als er die Tür öffnete und mich sah, reagierte er verblüfft: "Du? So spät? Was ist passiert?" "Hallo, Michael! Komm, zieh dir was über und komm mit! Ich will dir etwas sehr Wichtiges zeigen!"

Er schaute mich etwas skeptisch an und versuchte mehr aus mir herauszubekommen. Aber ich entgegnete nur: "Es ist eine Überraschung! Nun komm, mach schon!" Er schüttelte nur lachend den Kopf und sagte: "Na, da bin ich ja mal gespannt!"

Vor uns lag ein großer Bogen Papier, darauf stand das Minitischchen. Michael hatte meine Vorbereitungen aufmerksam verfolgt, ohne aber natürlich zu erraten, was nun auf ihn zukommen würde. Schließlich sagte ich zu Michael: "So, dann wollen wir uns mal mit meinem verstorbenen Onkel unterhalten!" Er schaute mich erst ungläubig an, dann begann er zu lachen: "Das ist jetzt ein schlechter Witz, oder?"

10 Minuten später konnte er immer noch nicht recht glauben, was er gerade gesehen und erlebt hatte. Mehrfach wiederholte er, von teils verlegenem, teils aufgeregtem Lachen begleitet: "Unglaublich! Ich kann das nicht glauben! Das ist unmöglich!"

Aber der Beweis lag vor uns auf dem Tisch. Er hatte meine Fragen an "Onkel Willi" gehört und auf dem Bogen Papier standen gut leserlich seine vernünftigen Antworten. Er schüttelte den Kopf. "Unglaublich!" sagte er noch einmal.

 

Am nächsten Tag trafen wir uns zufällig in einem Bistro. Er stand immer noch unter Eindruck des am Vorabend Erlebten. Ich schlug ihm vor, dass wir bei Gelegenheit ja noch einmal eine "Sitzung" machen könnten. Für einen kurzen Moment schwieg er, dann sagte er: "Kein Zweifel! Es hat wirklich funktioniert. Aber hör zu! Ich werde das nie wieder machen!" Ich war überrascht: "Aber wieso denn nicht? Du sagst doch selber, dass es funktioniert hat!" Er schaute mir nun direkt ins Gesicht, blickte dann zu Boden und sagte schließlich: "Es macht mir einfach Angst!"

Michaels Worte hatten mich überrascht. Seine darin verborgene Warnung hatte ich durchaus verstanden, aber sie beeindruckten mich nicht weiter. Ich hatte keine Angst vor dem Kontakt mit meinen verstorbenen "Verwandten". Ganz im Gegenteil, ich war glücklich den Kontakt ihnen hergestellt zu haben.

Mein Großvater, Tante Maria und Onkel Willi, und auch mein Onkel Fritz waren eindeutig die Personen, die mit zu meiner guten frühen Kindheit beigetragen hatten. Die Jahre zwischen dem dritten und siebten Lebensjahr waren die glücklichsten meines Lebens.

Sie endeten damals abrupt, als meine Mutter und mein Stiefvater aus ihren Flitterwochen zurückkamen, um mich von Onkel Willis und Tante Marias "Paradies" wieder abzuholen. Ich habe ja schon etwas früher erzählt, welch ein Schock dies für mich gewesen war. In meinem kindlichen Gemüt hatte ich tatsächlich geglaubt, dass ich für immer dort bleiben könnte. Als wir mit dem Wagen meines Stiefvaters den Hof verließen, sah ich durch das Rückfenster meine geliebten beiden Verwandten nebeneinander stehen und uns nachwinken. Als der Wagen um die Ecke bog wusste ich, dass ich das "Paradies" für immer verloren hatte.

"Vielleicht kommst du ja im nächsten Jahr wieder zu uns!" hatte Tante Maria gesagt. Aber innerlich spürte ich, dass es dazu nicht kommen würde. Und ich sollte recht behalten. Ich sah jenen wunderbar idyllischen Ort mit all seinen vielen Obstbäumen, den äsenden Rehen am Morgen und am Abend, dem großen Garten meines Onkels und dem so intensiv würzig riechenden Hühnerstall nie wieder.

Der Wagen meines Stiefvaters fuhr in eine mir unbekannte Stadt zu einer Wohnung, die nun für die nächsten Jahre mein neues Zuhause sein würde. Als wir in einem der Zimmer standen, sagte mein Stiefvater lächelnd zu mir: "Und das ist jetzt dein Zimmer! Freust du dich?"

An jenem Tag begann für mich ein völlig neuer Lebensabschnitt ohne meine Großeltern und ohne Onkel Willi und Tante Maria. Und die folgenden Jahre lief es eigentlich auch gar nicht so schlecht.

Ich ging gerne in die Schule und brachte ziemlich gute Noten mit nach Hause, ohne mich dafür besonders anstrengen zu müssen. So hatte nachmittags meist viel Zeit, um mit den Jungen aus meiner Nachbarschaft mich zum Spielen zu treffen. Oft spielten wir Fußball, aber durchaus auch andere Spiele wie zum Beispiel Verstecken oder "Räuber und Gendarm"! Gelegentlich durchstreifte ich alleine oder mit Anderen auch unsere nähere Umgebung mit ihren Hügeln und Wäldern. Aber bei all dem schimmerte schon jene Einsamkeit durch, die mehr und mehr mein Leben in den zukünftigen Jahren bestimmen sollte.

Mit dreizehn kam es nach einem Skiunfall (Knöchelbruch) auch zu einem "Bruch" in meinem Leben. Ich verlor nach und nach das Interesse an der Schule, wurde mehr und mehr rebellisch gegenüber den Lehrern und verbrachte viel Zeit mit "falschen Freunden" aus einem Tischtennisverein. Mit einem Wort, es ging erst langsam, dann aber ziemlich steil bergab. Und ab irgendeinem Punkt war ich auch nicht mehr in der Lage diesen Niedergang zu stoppen.

Es ist vermutlich müßig zu sagen, dass ich mich in jenen Jahren ziemlich alleine und unglücklich fühlte. Die Beziehung mit meinen Eltern war irgendwann nahe dem Nullpunkt angekommen. Ich trank oft Alkohol und kam nicht selten erst spät in der Nacht heim. Und ließ dann gelegentlich am nächsten Tag die Schule ausfallen.

So kam es, dass ich die 12. Klasse einmal wiederholen musste und schließlich in der Abiturprüfung knapp durchfiel. Um ehrlich zu sein, es war mir im Grunde genommen total egal.

Danach begann direkt meine Bundeswehrzeit, von der ich eigentlich gehofft hatte, fernab von zuhause eine Art Neuanfang machen zu können. Aber das Gegenteil war der Fall. Mit dem dort vorherrschenden Prinzip von Befehl und striktem Gehorsam kam ich überhaupt nicht klar.

Ich fing mir viele Disziplinarstrafen ein, was mich meinerseits nur noch "wilder" werden ließ. So beging ich zweimal Fahnenflucht und kann von Glück sagen, dass ich damals nicht im Gefängnis gelandet bin. Ich wurde stattdessen, für mich ziemlich überraschend, aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens vorzeitig von der Bundeswehr entlassen.

Damals war ich an einem absoluten Tiefpunkt in meinem Leben angekommen. Aber war auch noch einmal mit einem "blauen Auge" davongekommen. Und dies verstand ich damals durchaus auch als eine echte Chance für einen Neuanfang

Tatsächlich entwickelte sich nun mein Leben zum Besseren. Ich absolvierte ein praktisches Jahr in einem Kindergarten und durfte danach mit einem Sozialpädagogikstudium beginnen. Parallel wechselte ich meinen Schachverein und plötzlich schien auch da der Knoten geplatzt zu sein. Ich gewann verschiedene gutbesetzte Turniere und auf einem lernte ich Kerstin, meine erste große Liebe kennen. Auch die Beziehung zu meinen Eltern verbesserte sich wieder

So lief es drei Jahre recht gut, bis sich mit 24 die nächste Krise anbahnte. Ich fühlte mich nicht gut und brach mein Studium und die Beziehung zu meinen Eltern ab. Einige Monate lang lebte ich fast ohne Geld und zeitweise auch ohne einen festen Wohnsitz. Schließlich aber sah ich die Aussichtslosigkeit meiner Lage ein und suchte meine Eltern auf.

Tatsächlich half mir mein Stiefvater , so dass ich mir eine Wohnung anmieten und wieder mein Studium aufnehmen konnte. Das war dann auch der Zeitpunkt, wo ich den Widerstand gegen ein "normales" Leben aufgab und mein Studium nun auch etwas ernster betrieb.

Der Rest der Geschichte ist ja schon bekannt. Mit 27 geriet ich in die nächste heftige Krise und fragte mich beinahe verzweifelt: "Werde ich noch jemals im Leben das Glück finden?" Und jetzt, nach über 20 Jahren, war ich auf einmal wieder in Kontakt mit meinen geliebten, verstorbenen Verwandten aus glücklicheren Kindertagen. Und jetzt sollte ich den Kontakt wieder aufgeben? Ich verschwendete keinen Gedanken daran. Hatte ich doch jetzt die Hoffnung geschöpft, vielleicht mit ihrer Hilfe das Glück zu finden.

 

                 Im regelmäßigen Kontakt mit der unsichtbaren Welt

Die nächsten Wochen vergingen ohne besondere Vorkommnisse. Mittlerweile hatte der Frühling Einzug ins Land gehalten und so verlegte ich jetzt vermehrt meine Aktivitäten nach draußen. Zuhause allerdings setzte ich meine esoterischen Studien fort. Und fast täglich suchte ich den Kontakt mit meinen verstorbenen „Verwandten“.

Meist verliefen die einzelnen „Sitzungen“ in einer Frage- und Antwortspiel. Ich sprach irgendeine neugierige Frage laut in den Raum hinein und erhielt von „ihnen“ meist umgehend mittels des kleinen Tischchens eine Antwort.

Mein hauptsächlicher Gesprächspartner war „Onkel Willi“. Aber es war irgendwie immer klar, dass er im Namen aller schrieb. Jedenfalls benutze er meist die „Wir-Form“. „Wir empfehlen dir dies und das ... uns gefällt das ... etc!“ Sie schienen sich offensichtlich meist einig zu sein.

Einmal fragte ich ihn: „Sag mal, Onkel Willi, was machst du dort in der jenseitigen Welt eigentlich?“ Als Antwort konnte ich kurz darauf lesen:
„Wir_warten_hier_auf_unsere_nächste_Wiedergeburt_Bis dahin_geben_ wir_ auf_ dich_ und_ deine_ Eltern_acht“

Manche könnten ja das Wissen über eine solche fürsorgliche „Überwachung“ als unangenehm oder störend empfinden und es ihr Handeln beeinflussen. Dies war aber bei mir keineswegs der Fall. Im Gegenteil, ich fühlte mich ein Stückweit sicherer und geborgener. Ich lebte weiter so wie immer, allerdings mit der tiefen inneren Gewissheit, dass mit dem biologischen Tod es nicht zu Ende sein würde. Und dieses Wissen gab mir einen kräftigen Auftrieb in meinem Alltag.

Einmal sprach ich mit meinen verstorbenen "Verwandten" über den Einfluss der Sterne auf die menschliche Existenz. "Ja!", schrieben sie,"da_besteht_ein_großer_Zusammenhang_Mache_ruhig_ weiter_mit_der_Astrologie_Du_bist_auf_einem_guten _Weg!"

Aber sie bestärkten mich nicht nur in der Astrologie, sondern auch in meinen anderen esoterischen Beschäftigungen. Manchmal sprachen sie aber auch von Gott und der Bibel, was mich anfangs doch etwas irritierte. Da schien mir doch eher ein Widerspruch zu bestehen. Was hatten diese esoterischen Dinge mit dem christlichen Glauben zu tun? Sie passten doch wohl eher zum Buddhismus.

Aber ich thematisierte diesen Punkt nicht weiter. Wenn meine "Verwandten" dies so sagten, stimmte es vermutlich auch und würde der Zusammenhang früher oder später schon klarer werden. Ich stand ja erst am Anfang meiner esoterischen "Entdeckungsreise"!

Gegenüber Anderen erwähnte ich meinen Kontakt mit den verstorbenen "Verwandten" nur sehr selten. die meisten hätten es mir vermutlich sowieso nicht geglaubt und mich als "Spinner" abgetan. Als ich einmal mit Mike, dem Esoteriker, darüber sprach, reagierte er zu meinem Erstaunen recht reserviert:" Ja, ich habe davon gehört! Aber das ist nicht meine Richtung!" Und damit war das Thema für ihn erledigt.

Elke war die einzige, mit der ich mich ungezwungen und offen über meinen "Jenseitskontakt" unterhalten konnte. Was aber natürlich nicht weiter verwunderlich war! Schließlich hatte sie mich ja überhaupt erst darauf gebracht. Und natürlich hielten wir auch die ein oder andere gemeinsame "Sitzung" ab. Einmal schaute uns Peter dabei über die Schulter, sagte aber nichts dazu!

Auch mit Jürgen, meinem atheistischen Freund, sprach ich einmal darüber. Aber er lachte nur: "Blödsinn! Da ist nichts mehr, wenn der letzte "Vorhang" fällt! Wenn du tot bist, dann war es das!" Da wurde ich ärgerlich und forderte ihn heraus: "Dann können wir jetzt ja mal eine gemeinsame Sitzung machen!" Zu meiner großen Überraschung stimmte er sofort zu: "Warum nicht? Meinetwegen, machen wir einen Versuch!"

Tatsächlich starteten wir dann auch mit einer gemeinsamen Sitzung. Aber was soll ich sagen? Es war das einzige Mal, dass der Kontakt mit meinen "Verwandten" nicht funktionierte. Was mir natürlich Jürgens Spott einbrachte: "Habe ich doch gleich gesagt! Es gibt nichts Übernatürliches! Alles nur Einbildung!"

Später, als Jürgen schon gegangen war, fragte ich bei meinen "Verwandten" nach: "Warum habt ihr vorhin nicht geantwortet?" Die Antwort fiel kurz und bündig aus: "In_Zukunft_melde_dich nur_ noch_alleine_bei_uns!"  Ehrlich gesagt irritierte mich diese Antwort schon ein wenig. Was war denn falsch daran, Andere auch auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen? Ich sagte aber nichts weiter dazu und hielt mich dann an diese Anweisung.

 

                                        Bibel, Gott, Jesus,... Freikirche? Nein danke!

Claudia war eine nette Studentin, die ich von der Uni her kannte. Eines Nachmittags saßen wir nach einem Seminar noch etwas draußen in der nun schon recht kräftigen Frühlingssonne. Wir unterhielten uns über dies und jenes, bis ich dann auf meine esoterischen Beschäftigungen und die vierte Dimension zu sprechen kam. Meine Sitzungen mit den "Verwandten" erwähnte ich allerdings nicht.

Sie schien mir recht interessiert zuzuhören, aber als ich meine Ausführungen beendet hatte, blieb sie schweigsam. Etwas irritiert fragte ich nach: "Nun, Claudia, was denkst du darüber?" Zuerst blickte sie kurz etwas verlegen auf den Boden, dann schaute sie mir direkt ins Gesicht: "Ich weiß eigentlich nicht so recht, was ich dazu sagen soll! Ich bin Christin und glaube an Gott und Jesus. Und an das, was in der Bibel geschrieben steht!"

Wumm! Bibel, Gott und Jesus? In mir stiegen tief vergrabene Bilder aus der Kindheit hoch. Jeden Sonntag eine Stunde Langeweile in der Kirche, meine Kommunion und das allabendliche Gebet vor dem Schlafengehen. Ich wusste es immer noch:
Ich bin klein,
mein Herz ist rein,
soll niemand drin wohnen
als Jesus allein!

Und dann natürlich die Religionsstunden bei Frau Koch und später Herrn Laudage mit den Geschichten über Jesus, Petrus und Paulus, und all den Anderen. Wie lange das Alles schon her war!?

"Du bist wirklich eine Christin und glaubst an die Bibel?", fragte ich sie, nachdem ich mich vom ersten "Schock" erholt hatte. Sie nickte bestätigend. "Aber du bist eine intelligente Frau! Wie kannst du an einen solchen Unsinn glauben? Das sind doch als Legenden und Märchen in der Bibel!", sagte ich nun leicht ärgerlich. Ich konnte es wirklich nicht begreifen.

Sie blieb freundlich und entgegnete: "Ich gehöre zu einer evangelischen Freikirche! Wir haben jeden Samstag einen offenen Abend. Dort könntest du dich mit meinem Verlobten unterhalten. Er ist Diakon und kann dir die Dinge besser erklären als ich!"

Jetzt wurde ich richtig sauer und stand auf: "Okay, Claudia, lass uns das Thema beenden. Ich respektiere deinen Glauben, aber ich glaube nicht an Gott und schon gar nicht an die Bibel. So wäre ein Gespräch mit deinem Verlobten pure Zeitverschwendung! Komm, wir müssen ins nächste Seminar!"

Als ich später alleine war, dachte ich noch einmal über unser Gespräch nach. Wieso hatte ich eigentlich so ärgerlich reagiert? Ich hatte ihr von meinen esoterischen Dingen erzählt, und im Gegenzug hatte sie von ihrem christlichen Glauben gesprochen. Das war eigentlich ganz normal! Kein Grund so die Beherrschung zu verlieren. Ich schüttelte unwillig über mich selber den Kopf und nahm mir vor, mich beim nächsten Mal bei ihr zu entschuldigen.

                     
                                                    Der Mann im Park

Ein paar Wochen später saß Samstagabends zuhause herum und mir war langweilig. Ich hatte keine Lust auf eine Sitzung mit meinen "Verwandten" und so fuhr ich mit meinem Fahrrad in die Düsseldorfer Altstadt, gemeinhin bekannt als "die längste Theke" der Welt. Eigentlich mochte dieses Kneipenviertel nicht besonders, aber ich hoffte ein bisschen Ablenkung und Zerstreuung zu finden. Und so lief ich etwas ziellos in den Altstadtgassen herum.

Plötzlich sah ich auf dem Boden ein kleines Heftchen liegen und hob es auf. Es handelte sich offensichtlich um eine Art religiösem Traktat. Auf jeden Fall war von Jesus und der Bibel die Rede. Und auf der Rückseite befand sich die Adresse einer evangelischen Freikirche.

Natürlich kam mir sofort wieder das Gespräch mit Claudia in den Sinn. War es möglich, dass es sich hier um ihre Gemeinde handelte? Es war schon möglich, aber vermutlich gab es auch noch andere Freikirchen in der Stadt.

"Heute offener Abend!" las ich jetzt. Mir fiel Claudias Einladung wieder ein. Sollte ich nicht vielleicht einen Versuch wagen? "Sie würde ziemlich überrascht sein," dachte ich lächelnd bei mir selber. Doch dann fiel mir plötzlich ihr Verlobter ein. Der würde vermutlich, wenn es überhaupt die richtige Gemeinde war, auch vor Ort sein. Und auf ein Gespräch über Gott und die Bibel stand mir nun wirklich nicht der Sinn. Ich steckte das Heftchen ein und setzte meinen Altstadtbummel fort.

Irgendwann wurde mir dann aber doch das Herumspazieren in der Altstadt zu langweilig und so begab ich mich in eine der vielen Diskotheken, obwohl ich die normalerweise nicht ausstehen konnte. Schlechte Luft und zu viel Lärm!

Ich hatte gerade einen Rundgang durch die Diskothek gestartet, als mich plötzlich ein junger Mann anpöbelte und ohne einen erkennbaren Grund beleidigte. Ich stoppte und fragte ihn ganz ruhig: "So, was ist jetzt dein Problem? Habe ich dir irgendetwas getan? Also, warum attackierst du mich?"

Eigentlich hatte ich gehofft, dass ich ihn zur Vernunft gebracht hätte. Aber das Gegenteil war der Fall. Er wurde jetzt richtig wütend und beschimpfte mich aufs Übelste. Zum Glück zog ihn jetzt eine junge Frau, vermutlich seine Freundin, von mir fort und sagte mit einem entschuldigendem Lächeln in meine Richtung: "Das darfst du nicht ernst nehmen! Er ist betrunken. Am besten du beachtest ihn gar nicht weiter!"

Ich hatte die Nase voll und verließ umgehend wieder die Disco. Meine Laune war jetzt endgültig "im Keller" und so begab ich mich umgehend zu meinem Fahrrad. Kurz darauf lag die Altstadt mit ihrem lärmigem Treiben und ihren nie eingelösten Versprechungen hinter mir.

 

Auf dem Heimweg fuhr ich durch einen Park. Es war mittlerweile schon nach 22 Uhr und dunkel. Ich kam gerade an einem kleinen See vorbei, als ich aus dem Augenwinkel jemanden am Ufer stehen sah. Normalerweise hätte ich dem kaum eine weitere Beachtung geschenkt. Aber gerade als ich vorbeifuhr, hörte ich ihn deutlich und fast weinerlich sagen: “Ich will sterben! Ich bringe mich um!"

Das kam so völlig unerwartet, dass ich augenblicklich stoppte, um mich zu vergewissern. Hatte ich wirklich richtig gehört? Ich hatte! Denn er rief erneut: "Ich will sterben! Ich bringe mich um!"  Wenig begeistert stieg ich von meinem Rad und näherte mich ihm. "Hallo!", sagte ich, "Was ist los?" Er schaute mich an, als hätte er mich erst jetzt wahrgenommen. Ich blickte in ein offenes und ausdrucksvolles Gesicht. Der Mann war etwa meines Alters und schien mir nicht unsympathisch zu sein. "Ich habe keine Freunde! Ich bin so einsam! Ich bringe mich um!" sagte er unvermittelt und blickte wieder auf den See.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Konnte man seine Selbstmordabsicht wirklich ernst nehmen? "Wie heißt du?", fragte ich ihn. Ohne vom See wegzublicken sagte er, "Frank! Und du?" "Ich heiße Heiner!" Er schwieg. "Hör mal, Frank, du bist doch noch jung. Du hast das Leben doch vor dir. Da bringt man sich doch nicht einfach um?" Ich selber hatte das jedenfalls nicht vor, obwohl ich mich ja ebenfalls eigentlich einsam und unglücklich fühlte.

Nun wurde er zugänglicher und wir unterhielten uns für eine Weile recht gut. Wir setzten uns auf eine Bank und seine düstere Stimmung schien zu weichen. Einmal lachte er sogar laut. Das war dann auch der Moment, wo ich dachte, dass die Sache ausgestanden sei und ich weiterfahren könnte. So stand ich auf "Okay, Frank, ich muss jetzt weiter! Alles Gute! Und mach keinen Blödsinn! Versprochen?" Statt einer Antwort stand er ebenfalls auf und ging wieder zum Rand des Sees: "Ich bin so allein! Ich bringe mich um!"

Das war der Moment, wo ich zu bereuen begann, dass ich mich überhaupt mit ihm eingelassen hatte. Ich ging zu ihm hin." Wie willst du dich den in diesem kleinen See umbringen. Der ist doch höchstens in der Mitte 2 Meter tief!" Keine Ahnung, ob es stimmte. Aber mir war nun jedes Argument recht. "Ich kann nicht Schwimmen!", lautete seine lakonische Antwort.

Seite an Seite standen wir nun am Ufer des Sees. "Frank," sagte ich, "ich kann nicht die ganze Nacht hier bei dir bleiben und auf dich aufpassen. Ich werde jetzt gehen!" "Gut", sagte er lächelnd, "ich komme mit!"

Natürlich war ich nicht begeistert über seinen Vorschlag gewesen. Aber was blieb mir Anderes übrig. Und hatten wir schon bald gemeinsam den Park hinter uns gelassen und gingen eine Hauptstraße in der Düsseldorfer City entlang. Wir sprachen gerade über seine Probleme, als er auf einmal abrupt stoppte und mich fragte: “Wollen wir einen Tee trinken gehen?“

Ich schaute ihn etwas irritiert an: „Wo willst du denn um diese Uhrzeit noch einen Tee trinken gehen?“ Immerhin ging es auf 23 Uhr zu und die Altstadt war weit entfernt, wo man vielleicht noch ein offenes Bistro hätte finden können. Statt zu antworten ging er auf den Eingang des in unserer Nähe liegenden Gebäudes zu und öffnete die Tür: “Hier bei den Jesusfreaks!“ Er grinste mich an.

Tatsächlich schienen sich noch Menschen in dem Gebäude zu befinden. Ein Pärchen kam die Treppe hinunter und ging durch die geöffnete Tür hinaus. Kurz darauf verschwanden sie in der Nacht. „Hier gibt es Tee?“, fragte ich immer noch leicht irritiert. „Ja,“ meinte Frank,“ das nennt sich hier JESUS-HAUS. Die hatten heute Abend eine offene Versammlung. Haben sie jeden Samstagabend! “

Ich zögerte:“ Aber wenn die Versammlung vorbei ist, warum sollten wir da jetzt noch reingehen?“ Er entgegnete, immer noch in der offenen Tür stehend: “Nein, die haben anschließend immer noch die Teestube geöffnet. Da gibt es Tee und Gebäck umsonst. Und man kann sich mit den Christen auch ganz gut unterhalten!“

Zwei junge Frauen verließen laut lachend das Gebäude. Ich sah ihnen nach und fragte dann Frank:“ Bist du auch einer von den Jesusfreaks?“ Er machte eine abwehrende Handbewegung :“ Nein, um Gottes willen, nein! Ich gehe nur manchmal in die Teestube, um mich etwas zu unterhalten! Wollen wir reingehen?“

Augenblicklich begriff ich die Gunst des Moments und packte entschlossen zu. Ich lächelte ihn an:„ Tut mir leid, Frank! Aber ich bin müde und will nach Hause!“. Ich stieg auf mein Rad. „Aber du solltest da jetzt reingehen, einen Tee trinken und dich noch ein bisschen mit den Freaks unterhalten. Tschüss, mach`s gut!“ Und ohne seine Antwort abzuwarten fuhr ich los.  „Halt! Warte, ich komme mit!” hörte ich ihn schreien. Aber ohne mich noch einmal umzublicken trat ich noch etwas kräftiger in die Pedalen.

 

 

 

                                                  3.Die Krise

 

                                                   Eine Ankündigung                    

Anfang Juni saß ich in der Mittagszeit an meinem Küchentisch und blickte durch das geöffnete Fenster hinaus in den Garten. Es war ein herrlicher Frühsommertag mit einem blauen Himmel und einigen kleinen, weißen Wölkchen. Die Bäume im Garten waren Äpfeln, Birnen, Kirschen und anderen Früchten. Und von den vielen Blumen strömte ein wohlriechender Duft in meine „Klause“.

Die Katze meiner Vermieter lag dösend unter einem Strauch und schien die zwei auf der Wiese umher hüpfenden Vögel nicht zu beachten. Ein auf einem Ast sitzender Fink stimmte ein fröhliches Lied an. So, oder so ähnlich musste es auch im Paradies gewesen sein.

Vor mir auf dem Tisch hatte ich die Utensilien für eine weitere Sitzung mit meinen unsichtbaren, verstorbenen „Verwandten“ ausgebreitet. Und ich fragte in den Raum hinein: „Ist jemand da?“ Das Tischchen in Bewegung zu setzen begann. „Onkel_Willi_grüßt_dich!“ war auf dem Bogen Papier zu lesen. Ich lächelte. Es war gut, dass sie da waren. „Onkel Willi, erinnerst du dich als ich damals in meinen Schulferien bei euch auf dem Hof war?“

„Natürlich_erinnern _wir _uns!“ las ich und legte enthusiastisch nach: „Es war die schönste Zeit meines Lebens. Wie im Paradies!“ Etwas irritiert blickte ich auf das Tischchen. Es bewegte sich nicht! „Ist was?”, fragte ich nach. Das Tischchen setzte sich wieder in Bewegung und wenig später las ich auf dem Bogen Papier: „Jürgen_kommt_ gleich_ bei_ dir_vorbei!“Ich war erstaunt, denn wir waren nicht verabredet und ich hätte ihn um diese Zeit auch nicht unbedingt erwartet. „Wirklich?“, fragte ich nach. Das Tischchen setzte sich erneut in Bewegung: „Ja_Und_er_wird_heute_Nacht_sterben!"

Der Satz traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel und erschütterte mich bis ins Mark hinein. Ich brach augenblicklich in Tränen aus. Dann, nach etwa 10 oder 20 Sekunden, hatte ich mich wieder etwas gefasst. Das Tischchen setzte sich erneut in Bewegung. „Sei_nicht_traurig_Heiner_Morgen_wird_er_bei_uns_sein_und_dann_könnt_ihr_ja_eine_Schachpartie_miteinander_spielen“

Diese Worte hatten eine unmittelbar tröstliche Wirkung auf mich. Mir kam plötzlich zu Bewusstsein, dass mit Jürgens irdischem Tod unser Kontakt ja nicht enden würde. Sogar Schach würden wir mittels des Tischchens weiter miteinander spielen können.

Das Tischchen setzte sich erneut in Bewegung: „Aber_du_darfst_mit_ihm_nicht_über_seinen_bevorstehenden_Tod_sprechen_Verhalte_dich_ihm_gegenüber_so_wie_immer“ Sie gaben mir noch einige andere Anweisungen für den Nachmittag und schrieben dann: „Beeile_dich_Er_kommt_gleich“

Schnell packte ich  alle Utensilien vom Küchentisch in den Wohnzimmerschrank.  Als ich zurück in die Küche kam, schellte es.  Ich erschrak. Mein Herz begann zu pochen. „Das ist er!“ schoss es mir durch den Kopf.

Ich atmete tief durch und betätigte dann den Türsummer. „Nur nichts anmerken lassen!“ befahl ich mir selber. Schritte wurden im Treppenhaus hörbar. Als sie vor meiner Wohnung stoppten, öffnete ich die Türe.

Es war tatsächlich Jürgen, genau wie es die "Verwandten" angekündigt hatten. Er schien in guter Stimmung und sah keineswegs kränklich aus. Er begrüßte mich lachend mit einem "Hallo Heiner!" Unglaublich, dachte ich, dass er heute Nacht sterben wird! Und ein wenig Überraschung vortäuschend, sagte ich zu ihm: "Ah du bist es! Komm rein!"

So sehr mich die Ankündigung seines bevorstehenden Todes auch geschockt hatte, so gab es aber durchaus auch nachvollziehbare sachliche Gründe. Jürgen litt unter starken Herzproblemen und hatte schon einen Herzschrittmacher eingesetzt bekommen. Also die normale Lebenserwartung eines Gesunden hatte er somit sowieso nicht. Aber dass es nun so schnell gehen sollte!? Schließlich war er erst 35 Jahre alt.

"Es ist so ein herrlicher Tag. Was hältst du davon, wenn wir einen Spaziergang am Rhein entlang machen?" schlug er mir vor. Dies hatten wir schon oft gemacht und meist landeten wir danach noch beim "Chinesen"!  „Nein", sagte ich", es ist zu warm draußen. Lass uns lieber etwas in den Garten gehen!" Genau das hatten mir die "Verwandten" befohlen. Für einen kurzen Moment schien er etwas enttäuscht, dann aber gab er nach: "Einverstanden! Lass uns runter in den Garten gehen!"

Schnell griff ich in ein Regal und holte ein Buch heraus. Dann machten wir uns auf den Weg in den Garten. Wir suchten uns ein schattiges Plätzchen unter einem der Pflaumenbäume und ich schlug das mitgenommene Buch auf. „Hast du etwas dagegen, wenn ich dir hieraus ein paar Zeilen  vorlese?“ Er lachte kurz auf: “Nein, wieso sollte ich? Wie ist denn der Titel?“

Das Buch hieß „Eine Reise durch das Universum“ und handelte davon, dass die Seele eines Menschen nach dem Tode eine Weile im Universum herumreist. Ihm nun daraus etwas vorzulesen war nicht meine eigene Idee, sondern eine der Anweisungen, die mir die „Verwandten“ gegeben hatten. Wohl als Vorbereitung auf das, was Jürgen in wenigen Stunden bevorstand!

Als ich mit meiner Textpassage zu Ende war und das Buch zuklappte, brach Jürgen in lautes Lachen aus. Als er sich etwas beruhigt hatte, fragte er mich:  "Sag mal, Heiner, warum zum Teufel hast du mir gerade das vorgelesen? Du weißt doch, dass ich das Alles für Blödsinn halte.- Da gibt es nichts nach dem Tode. Tot ist tot!“

Ich schwieg und dachte ich etwas bedrückt: In einigen Stunden wirst du es besser wissen!“ Dann antwortete ich ihm aber doch in scheinbar belangloser Weise: „Ach, ich dachte nur, dass es nicht schlecht sei, wenn du das mal hören würdest?“ Er lachte erneut kurz auf und schüttelte etwas missbilligend den Kopf.

Wir blieben dann noch eine ganze Weile im Garten sitzen und unterhielten uns über dies und jenes, bis Jürgen plötzlich sagte: „So, jetzt bekomme ich doch langsam etwas Hunger. Was hältst du davon, wenn wir zum Griechen fahren und etwas essen?“

Für einen kurzen Moment zögerte ich. Die „Verwandten“ hatten mir diesbezüglich keine Anweisung gegeben. „Aber warum eigentlich nicht? “ dachte ich bei mir. Schließlich würde es unsere letzte gemeinsame Mahlzeit auf Erden sein. Und so nickte ich: „Ja, gut! Aber ich fahre mit meinem Rad!“

 

Etwa 20 Minuten später traf ich beim “Griechen” ein. Jürgen hatte seinen Wagen in der Nähe geparkt und wartete vor der Eingangstüre auf mich.

Wenig später unterhielten wir uns bei Gyros, Pommes und Salat, wie wir dies schon des Öfteren zuvor getan hatten. Scheinbar ein ganz normaler Vorgang! Was es aber natürlich nicht war. Jedenfalls für mich nicht. Alles stand unter dem Vorzeichen des „letzten Ma(h)l“.

Es war nicht so, dass jetzt noch einmal ganz gewichtige Dinge gesagt oder besprochen wurden. Nein, das geschah nicht! Ganz im Gegenteil war ich um „Normalität“ bemüht und versuchte nichts von dem nach außen dringen zu lassen, was mich innerlich beschäftigte.

Nach etwa einer halben Stunde verließen wir den Imbiss wieder und kurz darauf verabschiedeten wir uns ganz normal voneinander. Dann stieg Jürgen in sein Auto und fuhr los. Ich schaute ihm noch nach bis er ganz außer Sichtweite war. In dieser Welt werde ich ihn nicht mehr wiedersehen! kam mir in den Sinn. Nachdenklich ging ich zu meinem Fahrrad und schloss es auf!

 

                                                             Eine Bibel

Ich fühlte mich depressiv und erschöpft. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich nach Hause fahren und mich Schlafen legen sollte. Aber verwarf den Gedanken sofort wieder. Es war einfach noch zu früh dafür. Und so entschied ich mich in die Altstadt zu fahren. Vielleicht würde mich das etwas ablenken und auf andere Gedanken bringen.

In der Innenstadt stellte ich fest, dass ich offensichtlich nicht der Einzige war, der in dieser Richtung unterwegs war. Auf den beiden Bürgersteigen längs der Straße strömten vornehmlich junge Menschen in die Altstadt. Und hier und da war Lachen und Singen zu vernehmen. Auffällig war, dass viele von ihnen in Lila und Weiß gekleidet waren und Rucksäcke trugen. Etwas irritiert fragte ich mich: "Was geht hier vor sich?"

Als ich in der Altstadt ankam, war die schon sehr angefüllt mit Menschen. Was für einen frühen Mittwochabend schon recht ungewöhnlich war. Auch waren in den beiden Hauptgassen rechts und links Stände aufgebaut wie sonst eigentlich nur in der Weihnachtszeit und ganz besonderen Gelegenheiten. Ich schloss mein Fahrrad ab und begab mich neugierig zu einem der Stände. Es war ein Bücherstand mit politischen und religiösen Büchern und Heften. Und plötzlich sah ich ein Traktat mit der Aufschrift:

 

Evangelischer Kirchentag

in Düsseldorf
vom 6-10.6.1985

Und mit einem Mal begriff ich. Ich war mitten in einen Kirchentag hineingeraten.

Eigentlich konnte ich mir unter einen "Kirchentag" gar nichts so recht vorstellen. Aber okay, aber vermutlich hatte es mit Kirche, Religion und christlichem Glauben zu tun. Es war nur erstaunlich, dass ich von solch einem Großereignis im Vorfeld nichts mitbekommen hatte.

Aber im Grunde genommen war es eine angenehme Überraschung! Ich würde die Sache mit Jürgen eine Weile vergessen und mich mit neuen, vielleicht sogar interessanten Dingen beschäftigen können. Und außerdem gefiel mir die gute Stimmung um mich herum, die nichts mit der sonstigen Bierseligkeit hier zu tun hatte. Und so begann ich ein wenig herumzuschlendern und mich umzuschauen.

Ein bisschen erstaunte mich, dass es an den Ständen sehr oft um politische Inhalte ging. Und fragte mich einige Male etwas irritiert: "Wieso gibt es hier nicht mehr religiöse, christliche Bücher? Bibeln? Schließlich ist das hier doch ein Kirchentag!"

Und plötzlich verspürte ich in mir den Wunsch mir eine Bibel zu kaufen. Und staunte ein wenig über mich selbst. Noch vor wenigen Wochen hätte ich es für völlig ausgeschlossen, dass ich mir jemals eine Bibel kaufen würde. Seit meiner frühen Schulzeit hatte nicht mehr in einer gelesen. Und hatte es aus nicht vorgehabt, es jemals wieder zu tun.

Witziger Weise war es ausgerechnet Jürgen, selbst ein überzeugter Atheist, gewesen, der mir einige Monate zuvor zum Kauf einer Bibel geraten hatte. "Ist bestimmt interessant für dich sie ganz durchzulesen!", hatte er gemeint. Ich hatte ihn nur verständnislos angeschaut und geantwortet: "Warum sollte ich? Da stehen doch sowieso nur Legenden und Märchen drin!" Er hatte nur gelacht und entgegnet: "Trotzdem! Du solltest es tun!"

 

Mir fiel ein, dass auch die "Verwandten" hatten einige Male aus der Bibel zitiert hatten. Mit einer Bibel zuhause könnte ich das dann auch einmal nachschlagen. Und so begann ich an den Ständen nach einer Bibel Ausschau zu halten.

Nachdem ich eine Zeitlang erfolglos herum gesucht hatte, war ich doch etwas irritiert. Ich war doch auf einem Kirchentag! „Wie kann es dann sein, dass ich hier an den Bücherständen keine Bibeln zum Verkauf angeboten werden?“ fragte ich mich selber Plötzlich hörte ich von irgendwoher Singen. Ich folgte diesem Klang und gelangte zu einer Kirche. Für einen Moment zögerte ich, aber dann öffnete ich die Türe und ging hinein.

Mein letzter Kirchenbesuch lag Jahre zurück. Damals wohnte ich noch bei meinen Eltern und war an einem Heiligabend auf die spontane Idee gekommen, einen evangelischen Gottesdienst zu besuchen. Ich kann nicht genauso sagen, was ich mir davon versprochen hatte. Jedenfalls war ich so enttäuscht, dass ich mitten in der Predigt aufstand und die Kirche wieder verließ.

Hier war ich nun in das Ende eines Gottesdienstes geraten. Es wurde der Schlusssegen gesprochen und dann noch ein Lied. So war ich auch diesmal schnell wieder draußen. Während um mich herum die Leute aus der Kirche strömten, fiel mein Blick auf ein nahestehendes Gebäude. Dort standen an den offenen Fenstern im ersten Stockwerk einige Jugendliche und den Geräuschen nach zu urteilen, schien dort Einiges los zu sein.

 Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass eine innere Stimme zu mir sagte: Geh hinein! Dort wirst du eine Bibel finden! Für einen kurzen Moment zögerte ich, aber dann ging ich entschlossen auf den Eingang zu. Was hatte ich schon zu verlieren?

Als ich ins erste Stockwerk kam, war dort ein Büchertisch aufgebaut. Und es wurden auch ein paar Bibeln zum Kauf angeboten. Mein "Gefühl" oder meine "innere Stimme" hatte mich also nicht betrogen. Ich verglich die Bibeln eine Weile miteinander und entschied mich dann für eine katholische Einheitsübersetzung. Sie schien mir in einem gut verständlichem Deutsch geschrieben und war außerdem recht preiswert. 10 DM für eine Bibel erschien als ein mehr als fairer Preis für so ein dickes Buch.

Nach dem Kauf schaute ich noch einmal kurz in den Saal mit den vornehmlich jungen Leuten. Vorne waren einige Musikinstrumente aufgebaut. Entweder hatte hier gerade eine Veranstaltung stattgefunden oder es stand eine kurz bevor. Es interessierte mich aber nicht weiter und so verließ ich kurz darauf mit der Bibel unter dem Arm das Gebäude.

Seltsam, dachte ich, da suchst du überall nach einer Bibel und findest sie dort, wo du sie eigentlich nicht vermutet hättest! Und war es nicht erstaunlich, dass ich dies vorher schon gewusst hatte? Woher war der Impuls gekommen?

Auf jeden Fall war ich nun froh im Besitz einer Bibel zu sein. Seltsamerweise gab mir dies ein gutes Gefühl. Vielleicht ist es ja ein gutes Zeichen! , dachte ich bei mir selber. Ein Zeichen der Hoffnung in dieser doch recht angespannten Gesamtsituation!

 

Langsam schlenderte ich durch die Gassen der Altstadt zurück zu meinem Fahrrad. Ich hatte es schon fast erreicht, als ich auf einmal eine laute Stimme ganz in meiner Nähe vernahm. Ein Mann stand etwas erhöht und sprach offensichtlich zu einer kleinen Ansammlung von Menschen. Etwas irritiert stoppte ich und fragte mich neugierig: "Was geht da vor?"  So ein öffentliches Reden war auf jeden Fall recht ungewöhnlich.

Kurz darauf befand ich mich ebenfalls unter den Zuhören und schaute mir den Menschen etwas genauer an. Im Grunde ein ganz normaler Mann. Aber von dem doch eine Faszination ausging. Seine leidenschaftliche und klare Art des Redens hatte etwas Fesselndes.

Inhaltlich ging es um den Glauben an Jesus Christus. Das war mir schnell klar. Aber darüber hinaus hatte ich aber doch einige Mühe ihm zu folgen. Vielleicht weil ich zu spät hinzugestoßen war oder aber mich doch auch andere Gedanken beschäftigten.

Nach einer Weile wurde mir das Ganze doch zu langweilig und ich beschloss weiter zu gehen. Ich hatte mich gerade umgedreht, als mich lächelnd ein junger Mann ansprach: "Hallo! Mein Name ist Herbert. Ich komme aus Konstanz am Bodensee. Darf ich dich etwas fragen?"

Ehrlich gesagt fühlte ich mich schon etwas befremdet durch diese direkte Ansprache. Und hätte vermutlich normalerweise eher abweisend reagiert. Aber dies war kein Tag wie jeder andere. Und so nickte ich zustimmend: "Ja, gut! Worum geht es denn?" Herbert lächelte mich erneut freundlich an: "Hast du eine persönliche Beziehung zu Jesus?"

Wie schon gesagt, es war kein Tag wie jeder andere. Und so hatte ich mit dem jungen Mann aus Konstanz tatsächlich auf ein Glaubensgespräch eingelassen. Er war tatsächlich überzeugt davon über Jesus in eine persönliche Beziehung mit Gott gelangt zu sein und von Ihm in seinem Alltag geleitet und unterstützt zu werden.

 

In dieser Radikalität hörte ich dies zum ersten Mal und war schon einigermaßen verblüfft. Denn eigentlich sah er ganz "normal" aus. "Weißt du was", sagte er plötzlich, "ich sehe, dass du eine Bibel in der Hand hast. Was hältst du davon, wenn wir zusammen einige Bibelstellen lesen?" Ich nickte: "Ja, warum nicht!?"

 

Und so hatten wir uns auf eine kleine Mauer gesetzt und unsere Bibeln aufgeschlagen. Kurz zusammengefasst ergab unser gemeinsames "Bibelstudium" in etwa Folgendes:
Weil Adam und Eva sündigten, mussten sie das Paradies verlassen. Sie und alle auf sie folgenden Menschen waren sterblich geworden und hatten den unmittelbaren Zugang zu Gott und den Anspruch auf das ewige Leben verloren.

Soweit die schlechte Nachricht! Aber die gute lautete nun: "Durch Jesus Christus und seinen Tod am Kreuz wurde Adams Sünde gesühnt!" Und man kann nun wieder mit Gott in einen dauerhaften Kontakt kommen, vorausgesetzt man akzeptiert Jesus als seinen persönlichen Erlöser. Und das ewige Leben erhält man obendrein!

Soweit die "Theorie"!? Aber würde sie auch der Praxis standhalten? Mein Gesprächspartner versicherte mir enthusiastisch: "Es funktioniert wirklich! Ich habe Jesus mein Leben vor einigen Jahren übergeben und seit der Zeit bin ich wirklich in Kontakt mit Gott!"

Ehrlich gesagt war ich schon einigermaßen beeindruckt, aber nicht wirklich überzeugt: "Aber was macht dich denn so sicher, dass du wirklich in Kontakt mit Gott bist und dir das nicht Alles nur einbildest?" Ohne zu zögern antwortete er mir: "Seit jener Zeit hat mein Leben sich total verändert und ich erlebe täglich Fingerzeige und Beweise Seiner Liebe! Er hat mich einen ganz neuen Weg geführt!"

Das konnte man jetzt glauben oder nicht!? Vielleicht hatte er ja tatsächlich Erfahrungen gemacht, die ich noch nicht kannte. Für einen Moment war ich versucht, ihm von Jürgen und meinem Kontakt zu den verstorbenen "Verwandten" zu erzählen. Aber dann ließ ich es doch lieber bleiben. Vermutlich würde er das nicht richtig verstehen und ihn das Ganze etwas durcheinander bringen.

Stattdessen fragte ich ihn: "Und was ist zum Beispiel mit den Hindus? Sind sie nicht auch in Kontakt mit Gott? Und was ist mit Gandhi? Ist das nicht einer der edelsten Menschen, die jemals gelebt haben?"

Er sagte: "Schlag mal das Johannesevangelium auf. Kapitel 14 Vers 6! Und lies vor!" Ich tat wie mir geheißen und als ich es nach kurzem Suchen gefunden hatte, las ich laut:
"Jesus sprach zu ihm: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich!"                     ( Johannes 14,6)

Ich war geschockt! Hatte ich richtig gelesen? Jesus war der einzige Weg zu Gott? Ich begann die Dimension dieser Aussage zu begreifen. Wenn das wirklich stimmte, dann war in meinem Leben etwas grundlegend nicht in Ordnung.

 

Herbert erbot sich noch ein Gebet für mich zu sprechen. Ich erklärte mich einverstanden. Es kann nicht schaden. Und vielleicht nützt es ja sogar was, dachte ich bei mir selber. Und so betete er: "Jesus, du hast unser Gespräch mit angehört. Du siehst, dass Heiner wie ein verirrtes Schaf in der Wüste ist und nach Wasser sucht. Lass ihn nicht für die Ewigkeit verloren gehen und errette ihn aus seinem Zustande! Amen!"

Ich war zum zweiten Mal geschockt. Herbert sah mich als ein "verirrtes Schaf in einer Wüste" an, dass auf "ewig verloren" zu gehen drohte. Und einer Errettung durch Jesus bedurfte. Nicht gerade schmeichelhaft! Aber ich ging nicht weiter darauf ein und sagte nur: "Amen!" Dann verabschiedete ich mich von ihm und machte mich nachdenklich auf den Weg zu meinem Fahrrad.

 

Als ich es erreicht hatte, startete ich aber nicht sofort. Ich suchte mir einen ruhigen Platz und schlug noch einmal meine Bibel auf. Schnell fand ich, was ich suchte:
Niemand kann zum Vater kommen außer durch mich!

 Ich konnte es immer noch nicht glauben! Was war mit all den Anderen, die eine andere Religion hatten oder an nichts glaubten? Aber trotzdem „gute Menschen“ waren! Waren sie wirklich alle verloren? Und ich selber? Ich war doch in Kontakt mit meinen verstorbenen „Verwandten“. Und sie hatten doch auch gelegentlich die Bibel zitiert! Und auch mal von Gott gesprochen!

 Es war irgendwie alles recht verwirrend. Ich schloss die Bibel, blieb aber noch einen Moment nachdenklich sitzen. Nur durch Jesus zu Gott! Wenn es tatsächlich stimmte, dann lief im meinem und im Leben vieler Anderer richtig etwas falsch. Aber wie sollte man herausfinden, ob es stimmte oder nicht?

Plötzlich kam mir die rettende Idee: Ich frage morgen einfach bei den Verwandten nach!“ Schließlich hatten sie mir ja schon mehr als einmal bewiesen, dass sie sich mit den Dingen „hinter dem Vorhang“ deutlich besser auskannten als ich. Spürbar erleichtert stand ich auf und ging hinüber zu meinem Fahrrad. Ich schloss es auf und machte mich auf den Heimweg.

Vermutlich hätte ich auch hier normalerweise nicht länger nachgedacht. Aber angesichts der letzten zwölf Stunden begannen sich meine Gedanken erneut in Bewegung zu setzen: Paulus … Die Bekehrung des Saulus zum Paulus.

 

Bruchstückhaft begann ich mich an die Geschichte des Apostels Paulus zu erinnern, wie ich sie in meiner Kindheit gelernt hatte.

Saul war ein frommer Jude, ein Pharisäer, gewesen und hatte die ersten Christen verfolgt. Aber auf dem Weg von Jerusalem nach Damaskus war ihm Jesus in einem Licht erschienen und hatte zu ihm gesagt:„Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“ Und dann hatte sich Saulus zum Glauben an Jesus bekehrt und war unter dem Paulus ein berühmter christlicher Missionar geworden.

Seltsam, dachte ich, jetzt sitze ich hier mitten in der Nacht in einem fremden Wagen ausgerechnet vor so einem Plakat! Und das kurz nach einem Gespräch, in dem es um eine Bekehrung zu Jesus gegangen war. Konnte dies ein Zufall sein?

 Mir fiel das Gebet des jungen Mannes aus Konstanz wieder ein: „Jesus, bitte zeige ihm, dass du wirklich der Herr bist und lass ihn dich finden!“ Bestand da vielleicht ein Zusammenhang zwischen diesem Gebet und dem Paulusplakat?

 

Der junge Mann neben mir begann sich zu bewegen und hob den Kopf vom Lenkrad. Für einen Moment starrte er mich irritiert an. Dann aber schien seine Erinnerung zurückzukommen. „Na,“ sagte ich, „geht`s besser?“ Er lächelte etwas gequält: „Ja, ich fühle mich besser! Habe ich viel Blödsinn erzählt?“ „Nein, nein!“, entgegnete ich, “mach dir keine Sorgen!“ “Gut” , sagte er, “dann wollen wir mal!” Und drehte den Zündschlüssel herum. „Bist du sicher?“, fragte ich. „Ja”, antwortete er. “Alles in Ordnung. Wo wohnst du? Ich fahr dich nach Hause!”

Draußen prasselte nach wir vor der Regen auf die Strasse und die Kühlerhaube. Ein Ende war da nicht absehbar. „Gut“, sagte ich, „dann lass uns mal losfahren!Tatsächlich kam ich in der Nacht noch wohlbehalten nach Hause und schlief recht schnell erschöpft ein.

 

                      

 

               Ein neuer Schock

Am nächsten Morgen wurde ich recht früh wach. Und dann hielt es mich auch nicht länger im Bett. Ich wollte nun Klarheit. War Jürgen inzwischen wirklich gestorben und bei meinen „Verwandten“?

 So traf ich die üblichen Vorbereitungen und setzte mich mit einer Tasse Tee an den Küchentisch. Ich wartete auf meine „Verwandten. Kurze Zeit später setzte sich das kleine Tischchen in Bewegung und auf dem Bogen Papier war deutlich lesbar: Hallo_Heiner_wie_geht_es_dir?_Onkel_Willi ist_hier!_Und_die Anderen_natürlich_auch!

 

Sogleich fühlte ich mich etwas besser. „Sie“ waren also alle wieder da. Und wie meistens war „Onkel Willi“ mein Gesprächspartner. Wir hatten uns auch zu Lebzeiten schon recht gut verstanden.

Ich kam nun ohne Umschweife zur Sache und fragte in den Raum hinein: „Ist Jürgen gestorben?“ Das Tischchen setzte sich erneut in Bewegung: Ja_er_ist_jetzt bei_uns!

Also war es tatsächlich geschehen. Ich atmete einmal tief durch und sagte dann: „Gut, dann kann ich ja nun mit ihm die versprochene Schachpartie spielen!?“ Es entstand eine kleine Pause. Dann kam die Antwort: Das_ist_im_Moment_nicht_möglich_Er_hat einen_schweren_Todeskampf_gehabt_ und_ ist_noch_sehr_erschöpft

Diese Mitteilung überraschte mich etwas. Ich war naiver Weise davon ausgegangen, dass mit dem Hinüberwechseln in die andere Welt gleich alles in Ordnung sein würde. Offensichtlich war dem aber nicht so!

Plötzlich setze sich das kleine Tischchen erneut in Bewegung und dann las ich eine zittrige Schrift auf dem Bogen Papier. H_a_ll_o_H_ei_n_er.

Das ist Jürgen!, schoss es mir durch den Kopf. Und ich fühlte Freude in mir hochsteigen: „Hallo Jürgen“, sagte ich laut in den Raum hinein. „Schön, dass du bei meinen Verwandten bist!“

Dann lachte ich: „Heute darfst du nicht noch etwas schonen. Aber morgen bist du fällig. Dann spielen wir eine Partie Schach … und du wirst verlieren! Wie immer! Also, dann bis morgen!“

Ich stand vom Küchentisch auf und goss mir eine weitere Tasse Tee ein. Diesmal setzte ich mich mit einem Gefühl der Erleichterung wieder an den Küchentisch. Im Prinzip war doch alles „gut“ gegangen. Jürgen war nun bei meinen „Verwandten“ und der Kontakt zu ihm würde bestehen bleiben. Eben nur mittels des kleinen Tischchen stattfinden.

 

Ob er jetzt besser Schach spielen wird als früher? Der Gedanke ließ mich für einen Moment schmunzeln. Auszuschließen war das nicht. Denn auch meine „Verwandten“ besaßen ja offensichtlich deutlich mehr Informationen als ich.

Plötzlich kam mir die Worte vom Vorabend wieder in den Sinn. "Jesus ist der einzige Weg zu Gott!" hatte der junge Mann aus Konstanz behauptet. Und mir ja jene eine Bibelstelle im Neuen Testament gezeigt (Johannes 14,6).   Mal davon ausgehend, dass meine “Verwandten” über mein Gespräch vom Vorabend Bescheid wussten, fragte ich nun ohne Umschweife in den Raum hinein: “Stimmt das eigentlich, dass Jesus der einzige Weg zu Gott ist?”

Einen Moment lang geschah nichts, aber dann setze sich das kleine Tischchen wieder in Bewegung: Ja_Jesus_ist_ein_Weg_zu_Gott!_Aber_es gibt_noch_viele_andere!   Ah, das ist es also, dachte ich bei mir selber. Es gibt also doch verschiedene Wege, die zu Gott führen!

Meine Neugier war nun gestillt und so wechselte ich das Thema. Ich stellte meinen „Verwandten“ eine andere Frage. Zu meiner Überraschung aber ging „Onkel Willi“ darauf nicht ein, sondern begann etwas über einen meiner Freunde zu schreiben. Ich las es und stutzte. Das kann aber nicht sein! dachte ich irritiert ohne es auszusprechen. Es war ganz offensichtlich eine Unwahrheit.

Etwas irritiert erhob ich mich vom Küchentisch und begann in der Wohnung umherzugehen. Was ging hier ab? Wieso erzählte mir „Onkel Willi“ diese offensichtliche Lüge? Wusste er es nicht besser oder wollte er mich absichtlich täuschen?

Ich spürte eine seltsame Furcht und Ahnung in mir hochsteigen. Langsam begab ich mich zurück in die Küche, schaute zur Decke und sagte dann jedes einzelne Wort betonend: „Was ist hier eigentlich los?“

 

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Aber auf keinen Fall das, was nun geschah. Das kleine Tischchen setzte sich augenblicklich in Bewegung und raste mit hoher Geschwindigkeit über den Bogen Papier.

Die Heftigkeit dieser Bewegung erstaunte mich. Zumal dies überhaupt nichts an der Präzision des Geschriebenen änderte. Kurz darauf las ich mit ungläubigen Augen in gestochenen scharfer Schrift :
WENN_DU_DICH_NOCH_JEMALS_
WIEDER
_AN_UNS_WENDEN_WIRST_WIRD_ETWAS_
GANZ_SCHRECKLICHES_PASSIEREN

Ich war total geschockt! Angewurzelt stand ich vor dem Küchentisch und spürte, wie mich blankes Entsetzen erfasste. Dann begann ich wieder in der Wohnung auf und ab zu gehen. Ich versuchte meine Gedanken zu sortieren und meine Nerven in den Griff zu bekommen. Was ist los? Immer und immer wieder ging mir dieser Gedanke durch den Kopf. Wieso bedrohten mich plötzlich meine „Verwandten“? Was hatte ich falsch gemacht?

Aber so sehr ich mir auch das Hirn zermarterte, ich konnte einfach keine vernünftige Antwort darauf finden. Es ergab einfach alles keinen Sinn.  Aber ich bin in Gefahr! Es muss etwas geschehen! Ich zog meine Jacke über und verließ die Wohnung.


                      

 

              

 

              4. Die Rettung

                            

 

                     Durstig!

 

Wohin? Tief in mir spürte ich nach wie vor eine bohrende Angst! Die Dinge waren mittlerweile völlig außer Kontrolle geraten. Und ich hatte einfach keine Ahnung, was los war. So beschloss ich, erst einmal zum „Griechen“ zu fahren. Dort hatte ich ja in der Nacht mein Fahrrad stehen lassen. Danach würde ich weitersehen.

Während ich nun an einer nahegelegenen Haltestelle auf einen Bus wartete, brach erneut wie schon in der Nacht ein heftiges Gewitter los. Innerhalb weniger Minuten war die Straße etwa 10 Zentimeter hoch mit schlammigem Wasser überflutet, was in hohem Tempo bergab schoss.

Jetzt spielt auch noch die Natur verrückt!
Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob da vielleicht ein Zusammenhang zwischen dem Unwetter und der Warnung der „Verwandten“ bestünde. Immerhin hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben einen solchen Sturzbach erlebt. Wieso also ausgerechnet jetzt?

 Aber kurz darauf hörte der Regen dann wieder auf und die Straße war wieder fahrtauglich. Nur einige Schlammreste zeugten noch von dem vorangegangenen Spuk. Als wenig später dann der Bus kam, hatte ich die ganze Angelegenheit auch schon wieder vergessen.

Am griechischen Imbiss stieg ich aus und fuhr mit dem Fahrrad weiter in Richtung Altstadt. Ein bisschen Normalität und Sicherheit in unübersichtlichen, bedrohlichen Situation würde mir guttun. Dort angekommen angekommen stellte ich fest, dass vom Trubel des Vorabends kaum noch etwas zu spüren war. Nur ganz sporadisch sah man einzelne Kirchentagbesucher und auch die Bücher- und Imbissstände hatten zumeist noch nicht geöffnet.

So begab ich mich in mein früheres Stammlokal und hoffte, dort einige Bekannte zu treffen. Aber niemand war da. Und so setzte ich erst einmal zu zwei Backgammonspielern an den Tisch und schaute uninteressiert dem Spiel zu. Vielleicht würde ja noch jemand Bekanntes kommen.

 

Nach etwa einer Viertelstunde aber verlor ich die Geduld und fragte einen der Spieler: „Sag mal, wo sind denn die ganzen anderen Leute?“ Er schaute kurz vom Spiel auf und zuckte dann mit den Schultern: „Keine Ahnung! Aber heute ist ja Feiertag. Vielleicht kommen die später noch!“

“Feiertag? Was für ein Feiertag?”, fragte ich verdutzt nach. „Ach, irgend so einer von der Kirche“, lautete sein knapper Kommentar. Er war schon wieder ins Spiel vertieft. „Fröhlicher Kadaver!“ sagte plötzlich der Andere und lachte. Als ich ihn verständnislos anstarrte, ergänzte er : „Fronleichnam!“

 Jetzt lachten beide. Wohl über den „fröhlichen Leichnam“. Und dann fielen wieder die Würfel und beide blickten wieder auf das Board. Mir reichte es. Ich stand auf und verließ kurz darauf das Lokal.

 

Danach ging ich ziellos durch eine der schmalen Altstadtgassen und überlegte, was ich nun tun könnte. Aber mir fiel nichts Rechtes ein. Gut, dann fahre ich einfach wieder nach Hause!, sagte ich schließlich zu mir selber. Inzwischen hatten sich meine Nerven etwas beruhigt.

Gerade hatte ich den Innenstadtbereich hinter mir gelassen, als mich von einer Sekunde auf die andere ein starkes Durstgefühl überkam. Seltsam, dachte ich und hielt mein Fahrrad an.

Auf der gegenüberliegenden Seite sah ich einen Supermarkt und wollte mich schon in diese Richtung bewegen, als mir der „fröhliche Kadaver“ wieder einfiel. Mist, ist ja Feiertag heute! Und tatsächlich ging niemand in den Supermarkt rein oder kam von da heraus.

Ich schaute mich nach einem Kiosk oder was Ähnlichem um. Aber auch da: Fehlanzeige! Allerdings sah ich in einiger Entfernung eine größere Ansammlung von Menschen vor einem größeren Gebäudes stehen. Was war da los? Worauf warteten sie?  Mein Blick glitt die Gebäudewand hoch. Auf einer grünen Wand las ich einen orangen Schriftzug: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben

 

Das kam mir bekannt vor. Natürlich, der Bibelvers vom Vorabend! … und ich ergänzte im Geiste  …und niemand kommt zum Vater außer durch mich. War das nicht seltsam? Schon wieder dieser Bibelvers. Erst jetzt, als mein Blick noch höher glitt, sah ich die riesigen Buchstaben auf dem Dach des Gebäudes:                       
J E S U S H A U S

Und augenblicklich fiel mir wieder jener denkwürdige Abend mit Frank, dem „Selbstmörder“ im Park, ein. Ich erinnerte mich an Franks Worte: „Das sind die Jesusfreaks … Und die haben eine Teestube. Da gibt es Tee und Kekse umsonst … und man kann sich auch ganz gut mit denen unterhalten!“

Und so entschied ich mich, einen Versuch zu wagen. Vielleicht hatte ich ja Glück und es gab da drinnen tatsächlich etwas zu trinken. Ich  schloss meinen an einen Laternenpfahl und ging danach schnurstracks auf den Eingang zu.

Ich hatte schon den Türgriff der rechten großen Glastür in der Hand, als sich plötzlich eine Hand auf meinen Arm legte: „Du kannst da nicht rein“, sagte eine freundliche, aber auch entschiedene Stimme.

Etwas verwirrt nahm ich die Hand vom Griff und schaute nach der Quelle der unerwarteten Störung. Ein etwa 25 jähriger Mann blickte mich ernst, aber nicht unfreundlich an. Ich entdeckte eine Binde mit der Aufschrift „Ordner“ an seinem rechten Arm. Und jetzt nahm ich auch den jungen Mann an der anderen Seite der Glastür wahr. Auch ein "Ordner", wie es schien.

„Aber wieso denn nicht?“, fragte ich nach. Denn offensichtlich war etwas los im Gebäude. Warum standen sonst die Leute davor?“ Ist im Moment wegen Überfüllung geschlossen. Drinnen spielt eine bekannte christliche Rockband!“ Eine christliche Rockband? So etwas gab es tatsächlich. Egal! Ich hatte Durst und war nicht gewillt, mich aufhalten zu lassen. „Ach komm“, bat ich. „Einer mehr oder weniger spielt doch keine Rolle …!“

Aber er blieb hart: „Nein, das geht wirklich nicht. Wir haben klare Sicherheitsauflagen.” Er wies mit dem Arm hinter mich: “Die wollen alle rein. Aber das geht nicht. Lediglich wenn jemand rauskommt dürfen wir jemand Anderen hinein lassen.“

Ich startete einen letzten Versuch: „Kannst du nicht bei mir eine Ausnahme machen? Ich muss da rein!“  Er schaute  mich für einen Moment ernst, aber nicht unfreundlich an. sagte plötzlich: „Gut, geh rein!“ Er öffnete die Tür und ich huschte hinein.

Während sich die Tür wieder hinter mir schloss und ich die ersten Treppenstufen hochging, hörte ich die wütenden Proteste derjenigen, die draußen geblieben waren. Aber dies interessierte mich jetzt nicht weiter. Jetzt galt es erst einmal etwas Trinkbares zu finden.

 

                                    *

 

Im Gebäude selber war die Rockmusik nun deutlich vernehmbar. Sie kam irgendwo von oben. Aus reiner Neugier ging ich die Treppen solange hoch, bis ich vor einer halb geöffneten Saaltüre stand. Von drinnen drang ohrenbetäubender Lärm heraus.

Normalerweise konnte ich solch einen Krach nicht ausstehen, aber in diesem Moment war es mir egal.  Für jemanden in einer solchen Ausnahmesituation wie ich es war, galten die „normalen“ Regeln sowieso nicht mehr. Und so vergaß ich meinen Durst und ging durch die Türe, mitten hinein in den lärmigen Trubel.

Nach wenigen Sekunden hatte ich mich orientiert. Ich befand mich in einer Art großem, halbdunklem Kinosaal, der tatsächlich völlig überfüllt zu sein schien. In den Sitzreihen und Seitengängen saßen und standen dicht gedrängt zumeist junge Leute, deren ganze Aufmerksamkeit dem Geschehen vorne auf der hell beleuchteten Bühne galt.

Wo jene bekannte Rockband ihr Bestes gab und sich offensichtlich total verausgabte. Angefeuert durch das frenetische Schreien, Kreischen, Stampfen und Jubeln des Publikums.

Glücklicherweise fand ich noch einen freien Platz an einer Seitenwand. Und während ich dem lärmigen Treiben auf der Bühne und im Saal wie in Trance zuschaute, drifteten meine Gedanken schnell in meine eigene „Welt“ ab.

Ich dachte wieder über Jürgens bevorstehendenTod und die furchtbare, unerklärliche Drohung meiner „Verwandten“ nach: Wenn du uns jemals wieder bei uns meldest, wird etwas Schreckliches geschehen hatten sie geschrieben. Der Gedanke daran ließ mich erneut schaudern. Was hatte „sie“ so verändert, dass „sie“ mich offen bedroht hatten? Was habe ich falsch gemacht? Aber so sehr ich auch darüber grübelte, ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Es war und blieb einfach unbegreiflich!

Plötzlich wurde es ganz ruhig im Saal. Ich erwachte aus meinem Trancezustand und blickte zur Bühne. Dort hatte die Band aufgehört zu spielen und der Sänger war vorgetreten. Er hielt ein Mikrophon in der Hand und begann nun zum Publikum zu sprechen. Mit kräftiger Stimme erzählte er, dass Jesus sein Leben verändert hätte und dass Er dies auch im Leben aller Anwesenden zu tun beabsichtige... man müsse es Ihm nur erlauben: "Gib dein Leben Jesus und Er wird es völlig neu machen!" war seine zentrale Botschaft.

 

Diese Botschaft kannte ich ja nun mittlerweile schon vom Vorabend. Aber sie nun auch noch aus dem Munde dieses ausgeflippten Rocksängers zu hören, überraschte mich jetzt doch etwas: „Jesus und diese chaotische Musik. Wie geht das denn zusammen?“ fragte ich mich insgeheim. Ich schaute mich im Saale um. Aber offensichtlich hatte sonst keiner ein Problem damit.

Ganz im Gegenteil schienen sie an seinen Lippen zu hängen und seine Worte begierig aufzunehmen. Ab und zu war ein zustimmendes “Halleluja“ oder ein „Preis den Herrn“ zu vernehmen.

Als der Sänger schließlich seine Rede beendet und sich wieder zu den anderen Musikern gesellt hatte, begab ich mich schnell zum Ausgang. Gerade noch rechtzeitig, denn kurz darauf setzte ein ohrenbetäubender Lärm ein.

Schnell entfernte ich mich vom Ort des Geschehens und ging wieder die Treppe hinunter, die ich einige Minuten zuvor heraufgekommen war.

 

 

                 

               "Der Herr kommt bald!"

Unten angekommen stellte ich fest, dass mittlerweile die Eingangstüre geöffnet worden war. Die beiden Türhüter und auch die Wartegruppe von vorher waren nicht mehr zu sehen.

Ich wollte schon das Jesushaus wieder verlassen, als mir auf einmal eine kleine, offene Seitentüre auffiel. Darüber stand in dicken Buchstaben BUCHLADEN geschrieben.

Und plötzlich fiel mir der eigentliche Grund meines Aufenthaltes im Jesushaus ein: Ach ja, ich wollte ja eigentlich etwas trinken! Vielleicht gibt es ja da drinnen etwas!? Und so änderte ich meine Richtung und trat in den Laden.

Der Raum war nicht allzu groß und die Wände vollgestellt mit Bücherregalen. Und dann sah ich in einer Ecke tatsächlich einen Tisch, auf der eine riesige Kaffeemaschine und zwei Kuchenbleche standen. Ich war am Ziel meiner Wünsche angelangt.

 

Wenig später stand ich in der Mitte des Raumes und genoss Kaffee und Kuchen. Ich begann mich wieder etwas besser zu fühlen. Für einen Moment war meine kleine Welt wieder in Ordnung.

Doch plötzlich drehte sich die Frau, die mich kurz zuvor bedient hatte, ohne einen erkennbaren Grund herum und schaute mir mit ihren blauen Augen direkt ins Gesicht. Dann sagte sie ganz ruhig: „Der Herr kommt bald!“ Ohne eine Erwiderung von mir abzuwarten, wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.

Ich stand wie angewurzelt auf meinem Platz und hatte das Gefühl, als wenn sich gleich der Erdboden unter mir auftun würde. Mein Schädel dröhnte wie nach einem Gongschlag in allernächster Nähe. Panik stieg in mir hoch. Was hat das zu bedeuten? Warum sagt sie so etwas zu mir?

Für mich stand außer Frage, dass jemand Anderes als die Frau zu mir gesprochen hatte. Sie lediglich ein Medium für eine Botschaft an mich war. Und dass es jetzt wirklich ernst wurde! Aber wer hat da zu mir gesprochen? Etwa meine „Verwandten“? Ich spürte eine neue Schockwelle durch meinen Körper laufen. Hatten sie eine solche Macht?

Aber die Rede war von einem Herrn Was für ein Herr?, fragte ich mich angstvoll. Und was heißt: Er kommt gleich? War das eine Todesankündigung? Hatte meine letzte Stunde geschlagen? Würde ich nun sterben? Ich fühlte mein Leben jetzt ernsthaft in Gefahr. Es würde etwas geschehen und es „kommt bald“. So jedenfalls hatte die „Botschaft" gelautet.

Bleib ruhig! sagte ich zu mir selber. Und tatsächlich beruhigte ich mich etwas. Auf jeden Fall muss ich unter Menschen bleiben! war mein nächster Gedanke. Seltsam, dass man in Gefahr instinktiv die Nähe und von anderen Menschen sucht. Selbst wenn sie einem nicht näher bekannt sind.

 

Ich verließ den Buchladen und trat mit meinem Becher Kaffee vor das Jesushaus. Zu meiner Überraschung waren hier inzwischen Tische und Stühle aufgebaut worden. Die meisten der Tische waren besetzt von Menschen, die hier ebenfalls Kaffee und Kuchen verzehrten oder sich einfach nur unterhielten. Oder ausruhten.

Ich setzte mich zu einem jungen Paar und einem älteren Mann an den Tisch. Aber es waren noch einige freie Plätze zwischen uns. So dass sie sich auch nicht gestört fühlen konnten. Und ich in Ruhe meinen eigenen Gedanken nachgehen konnte. „Der Herr kommt bald!“ Immer wieder kam mir dieser Satz in den Kopf. Aber es war zwecklos. Es gelang mir einfach nicht, den Sinn dahinter zu deuten.

Inzwischen war zwischen dem jungen Paar und dem älteren Mann ein recht lebhaftes Gespräch entstanden. Und es ging wieder um den Glauben an Jesus. Offensichtlich versuchte der Ältere die beiden Anderen zu überzeugen.  

Ohne es eigentlich zu wollen, begann ich den älteren Mann zu beobachten. Er sprach leidenschaftlich und mit Überzeugung. Das gefiel mir. Überhaupt machte er einen recht sympathischen Eindruck auf mich. Vielleicht würde es mir helfen, wenn ich mit ihm mal reden könnte!? , dachte ich plötzlich.

Ich hatte es kaum gedacht, als plötzlich alle drei aufstanden. Es wurden Hände geschüttelt, gelacht, und dann spazierte das Pärchen Hand in Hand davon.

Der ältere Mann war stehen geblieben und schaute nun zu mir herüber. Er schien über etwas nachzudenken. Dann gab er sich plötzlich einen Ruck und kam direkt auf mich zu: „Hallo“, sagte er, „ich heiße Karl. Haben Sie Probleme?“

Ich war ziemlich überrascht, so direkt von ihm angesprochen zu werden. Sieht man mir das so an, dass ich in Problemen stecke? fragte ich mich unwillkürlich. Offensichtlich war es so! Ich lächelte etwas gequält und sagte: „Ja, das könnte man so sagen!“ Seine nächste Frage kam ohne Zögern: „Kennen Sie den Herrn Jesus?“

 

Normalerweise wäre hier für mich Schluss gewesen. Das war viel zu übergriffig. Aber es war nun mal kein Tag wie jeder andere und ich suchte ja auch Hilfe. Und so antwortete Ich: „Ja, schon! Aber vermutlich nicht so, wie Sie das meinen!“  Er nickte verständnisvoll und sagte dann: „Wollen wir zusammen beten?“

Ich schwieg einen Moment lang betreten. Wann hatte ich das letzte Mal gebetet? Ich konnte mich nicht erinnern. Vielleicht in der Kindheit. Aber warum eigentlich nicht? , dachte ich plötzlich. Schaden konnte es ja nicht.

„Ja, einverstanden“, entgegnete ich. Dabei blickte ich mich kurz um. Ringsum saßen noch Leute an den Tischen. „Aber nicht hier!“ „Das ist kein Problem“ , meinte er. „Drinnen im Jesushaus gibt es einen kleinen Gebetsraum. Dahin können wir gehen.“ Ich erhob mich und wir gingen gemeinsam hinein ins Jesushaus.

 


                    

                   Der Besuch des Herrn

Im ersten Stockwerk befand sich tatsächlich ein kleiner Raum, an dessen Türe ein Pappschild mit der Aufschrift “Gebetsraum” angebracht war. Zum Glück war er leer.

Wir setzten uns nebeneinander auf zwei Stühle und schwiegen. Und jetzt?, dachte ich.  Plötzlich sagte der alte Mann unvermittelt: „Du kannst jetzt mit deinem Gebet beginnen!”

Meine Reaktion überraschte mich selber. Ich begann augenblicklich zu weinen. Die Tränen liefen mir über das Gesicht, ohne dass ich sie stoppen konnte. Er wartete geduldig, bis ich mich beruhigt hatte und fragte dann vorsichtig: „Was ist los?“

Ich schüttelte den Kopf und entgegnete: „Ich kann nicht beten. Ich weiß nicht, was ich sagen soll!“ „Gut“, meinte er, „das ist kein Problem. Dann machen wir es so, ich bete ich einen Satz vor und du sprichst ihn einfach nach. Vor Gott gilt das genauso, als wenn es direkt von dir kommen würde. Bist du einverstanden?“ Ich nickte.  

 

Und so begann der der alte Mann zu beten: „Herr Jesus, du siehst mich hier verzweifelt und niedergeschlagen vor dir sitzen.“ Er machte eine Pause und ich wiederholte den Satz. Dann fuhr er fort: „Du kennst mich besser als ich mich selber. Bitte vergib mir, dass ich dich so lange ignoriert und ohne dich gelebt habe.“ Woher wusste er das? Egal, ich wiederholte den Satz!

“Jesus,” sagte er nun, "ich übergebe dir nun mein Leben. Bitte vergib mir meine Sünden und leite mich von nun an deinen Weg. Ich will dir folgen!“ Während ich den Satz laut nachbetete, dachte ich: Eine „Lebensübergabe an Jesus? Aber das habe ich doch gar nicht vorgehabt. Will ich das wirklich?

Aber es war jetzt keine Zeit zum Nachdenken, denn er sprach schon den nächsten Satz : „Danke Gott, dass du mein Gebet erhört hast und ich jetzt dein Kind bin…. Amen!“ Ich wiederholte auch diesen Satz und nach dem Amen öffnete ich meine Augen. Karl ergriff meine Hand und schüttelte sie herzlich: „Gratulation! Jetzt bist du ein Kind Gottes!“

Ich lächelte etwas gequält. Aber bevor ich noch etwas entgegnen konnte stand er auf und sagte: „Warte hier! Ich will kurz zu meiner Frau. Die hat immer ein Buch für Neubekehrte dabei. Das wird dir bei deinen ersten Schritten in deinem neuen Leben als Christ helfen!“

Ein paar Sekunden später schloss sich die Türe hinter ihm und ich blieb alleine im Raum zurück.
Ich begann nachzudenken. Gut, er hat mich überrumpelt! Von einer Lebensübergabe an Jesus war im Vorfeld in keiner Weise die Rede gewesen. Andererseits, was habe ich zu verlieren?

Auf einmal wurde mir klar, dass ich eine Entscheidung zu treffen hatte. Sollte meine Lebensübergabe nun gelten oder nicht? Ich hielt einen Moment inne. Was habe ich schon zu verlieren? dachte ich erneut. Ich hatte ja sowieso vorgehabt, die Bibel zu studieren und danach vielleicht Jesus mein Leben zu geben. Warum also nicht sofort? 

 

Und dann traf ich meine Entscheidung: Die Lebensübergabe soll von meiner Seite aus gelten!   Augenblicklich spürte ich eine große innere Erleichterung und im selben Moment wusste ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Mir kamen wieder die Worte von der Frau aus dem Buchladen in den Sinn: „Der Herr kommt bald!“ Und plötzlich begriff ich es.  Der Herr war soeben da gewesen und hatte mich in seine Nachfolge gerufen. Ich lehnte mich im Stuhl zurück. Und ich, ich würde ihn nicht enttäuschen wollen!

 

                       Die Versammlung

 

Kurz darauf  kehrte Karl zurück. Er überreichte mir ein Buch und meinte: "Das wird dir in der erste Zeit helfen ". Ich blickte auf den Buchtitel:
Erste Schritte im Glauben

"Das ist ein Geschenk von meiner Frau. Sie möchte dich übrigens kennen lernen?" Und so verließen wir gemeinsam den Raum und gingen hinauf in den Saal. 

Zu meiner Überraschung war er immer noch recht gut mit gefüllt, obwohl die Bühne leer war. Jung und alt saßen oder standen in den Sitzreihen und es herrschte ein munteres Geplauder. Wir gingen ganz nach vorne und in die zweite Sitzreihe hinein. Dort stellte mich Josef  seiner Frau vor, die einige Jahre jünger als er war.

Sie  begrüßte mich mit herzlichen Worten: "Ah, Sie sind also der junge Mann, der sich soeben zum Glauben an Jesus bekehrt hat. Ich beglückwünsche Sie. Das war die beste Entscheidung ihres Lebens!" Ich lächelte:" Das will ich doch hoffen!"

 

Wir plauderten noch eine ganze Weile miteinander und ich vergaß etwas die Umgebung. Plötzlich setzte erneut Musik auf der Bühne ein. Aber im Gegensatz zu vorher kein harter Rock, sondern melodisches Gitarrenspiel.

Ich schaute etwas überrascht zur Bühne hoch. Dort hatte sich eine Gruppe junger Leute versammelt, die offensichtlich bald zu singen gedachten. Als ich gerade überlegte, ob ich nicht besser mich verabschieden und gehen sollte, meinte Josefs Frau: "Warum wollen Sie denn gehen? Jetzt fängt hier ein Gottesdienst an. Das ist bestimmt interessant für Sie!" Und so setzte ich mich hin und blieb.

                                  

Mit dem Wort Gottesdienst verband ich in erster Linie jene unendliche Kette von Sonntagvormittagen, die ich in meiner Kindheit alleine in katholischen Kirchen zugebracht  hatte. Und die empfundene Langeweile ob der fast immer gleichen ernsten, würdevollen Liturgie.

Wie schon gesagt, war ich als Kind gläubig gewesen und hatte  diese Gottesdienstbesuche auch nicht weiter in Frage gestellt. Anfangs hatte mein Stiefvater darauf bestanden, später ging ich freiwillig hin. Es gehörte einfach zu einem Sonntagvormittag dazu.

Schon nach wenigen Minuten war mir klar, dass dieser Gottesdienst  im Jesushaus mit denen aus Kindertagen in keiner Weise zu vergleichen war. Hier ging es recht locker und fröhlich zu. Die Musikgruppe vorne auf der Bühne wirkten  als eine Art Animateure. Sie stimmten ein christliches Lied an und dann wurde der entsprechende Liedtext an der Bühnenrückwand angezeigt. Sofort stimmten die Leute im Saal, zumeist stehend,  laut und fröhlich ein in den Gesang ein. So fröhlich ging es zu, dass ich mich gelegentlich verstohlen umschaute. War ich hier wirklich in einem Gottesdienst?

Karls Frau  mochte mein Erstaunen gespürt haben, denn sie sagte plötzlich: "Das ist der Lobpreis. Wir singen die Lieder zur Ehre Gottes. Schließlich soll Er sich ja wohlfühlen unter uns!" Sagte es und streckte erneut die Hände in die Höhe und sang weiter.

Ich verlor schnell meine anfängliche Scheu, sang erst leise und dann kräftig mit. Die Melodien und Texte waren einfach gehalten und es machte einfach Spaß, sie mitzusingen.

Der Lobpreis dauerte etwa eine halbe Stunde und mündete in einem längerem Applaus (für Gott) und lauten Hallelujarufen. Dann setzen sich alle im Saal erst einmal hin und die Sänger und Musiker auf der Bühne nahmen im Hintergrund auf Stühlen zwanglos Platz. Offensichtlich war für sie erst einmal Pause angesagt.

Eine junge Frau aus dem Publikum betrat nun die Bühne! Sie schien ein wenig nervös zu sein, was sich aber nach einigen Augenblicken zu geben schien. Sie erzählte, dass Jesus ihr geholfen hätte eine Arbeitsstelle zu finden. Was mit einigen Hallelujas aus dem Publikum kommentiert wurde. "Sie gibt ein Zeugnis", erklärte mir Josefs Frau.

Danach gab es noch ein weiteres Zeugnis eines älteren Mannes, ein weiteres Lied und dann trat ein Mann mittleren Alters ans Rednerpult. Augenblicklich kehrte Ruhe im Saal ein. Er blickte einen Moment ins Publikum, schlug dann seine Bibel auf  und sagte dann: "Lasst uns beten, dass der HERR sein Wort segnet!"


Während des Gebets beobachtete ich den Pastor etwas genauer. Er besaß ein recht  markantes Gesicht, welches von einem gepflegten Bart umrahmt wurde. Er sprach ruhig und bedächtig.

Nach dem Gebet lächelte er und blickte in den Saal: " Guten Abend miteinander! Für. die, die mich noch nicht kennen, - mein Name Gerhard B.(Name bekannt) und ich  bin der Pastor der Gemeinde. Aber es ist auch nicht so wichtig mich zu kennen.“

Er machte eine kleine bedeutungsvolle Pause.  „Wichtiger ist es den Herrn Jesus zu kennen. Und es ist nicht so wichtig, dass ich heute Abend hier bin, sondern dass Jesus da ist. Und dass er durch Sein Wort zu uns spricht!" Im Saal laute Hallelujarufe!

Er fuhr fort: "Und wenn du ihn noch nicht kennst, so hast du heute Abend die Gelegenheit, ihn kennen zu lernen". Wieder eine kleine Kunstpause, wieder einige Hallelujarufe im Saal. Nun erhob er etwas seine Stimme und blickte ernst ins Publikum: "Er kennt dich ganz genau und wartet auf dich. Also, richte dich darauf ein, dass er dir heute Abend noch begegnen will."


Predigten waren mir eher als eine langweilige Angelegenheit in Erinnerung. Aber dieser Mann verstand offensichtlich sein "Handwerk". Obwohl die Predigt über eine Stunde dauerte, herrschte eine durchgehende Aufmerksamkeit im Saal. Der Mann verstand es auf eine subtile Art und Weise seine Zuhörer zu fesseln.

Inhaltlich sprach er zuerst vom Gläubig werden an Jesus: „Niemand kann aus sich selber heraus an Jesus gläubig werden. Es geht dem immer ein Handeln Gottes voraus.“ Er belegte seine Behauptung mit einem Vers aus dem Johannesevangelium :
Jesus sprach: Deshalb habe ich gesagt, dass niemand zu mir kommen kann, es sei ihm denn von meinem Vater (also Gott) gegeben(Johannes 6,65)


Als Nächstes sprach er dann darüber, was beim Gläubig werden an Jesus mit einem Menschen geschieht: " Im Moment des Gläubig werdens wird er von neuem geboren!" Hier stutzte ich anfangs schon etwas, kannte ich den Begriff Neugeburt oder Wiedergeburt halt nur  im Sinne der esoterischen Reinkarnationslehre. Dies war hier offensichtlich nicht gemeint. Sondern ein innerer Vorgang. Eine innere Erneuerung des Menschen.

Zum Schluss sprach er noch über Heilung von körperlichen und seelischen Gebrechen durch Gottes übernatürliches Handeln. Danach sprach er ein abschließendes Gebet und lud dann insbesondere die Neubekehrten ein, nach vorne vor die Bühne zu kommen.

 Nach einigem Zögern stand ich auch auf und ging mit etlichen Anderen nach vorne vor die Bühne.

Während im Hintergrund leise Instrumentalmusik spielte, erklärte uns der Pastor, dass er nun ein Segensgebet für uns sprechen wolle. Wir sollten einfach unser Herz weit für Gott öffnen  und versuchen leise mit zu beten.

So geschah es dann auch. Der Pastor betete laut, wir beteten leise mit, im Hintergrund die Musik ... und ich hatte das Gefühl mich inmitten eines starken "Kraftfeldes" zu befinden. War das die "Kraft Gottes", um die der Pastor gerade für uns betete?

                           *

Wenig später war dann diese Gebetszeit vorbei und der Pastor beendete nun den offiziellen Teil des Gottesdienstes. Er fügte aber hinzu: " Aber natürlich sind alle herzlich eingeladen, sich noch weiter im Hause aufzuhalten. Wer mag kann sich auch in die Teestube begeben. Dort gibt es kostenlos Getränke und Gebäck. Ansonsten wünsche ich allen einen guten Heimweg und Gottes Segen."

Ich befand mich schon mit vielen Anderen auf dem Weg zum Ausgang, als er auf einmal erneut die Stimme des Pastors vernahm: „Jetzt ist noch Zeit für persönliche Gebete. Wer Schuld auf sich geladen hat, - also beispielsweise Diebstahl, Ehebruch, Okkultismus..., der kann die Sache nun mit Gott ins Reine bringen. "

Ich stutze und blieb stehen. Dunkel  entsann mich, dass ich in einem esoterischen Laden einmal vor Regal mit der Überschrift OKKULTISMUS gestanden hatte. Hatte ich etwas damit zu tun?

Vielleicht ist es doch besser, wenn ich zurückbleibe und nachfrage.
dachte ich bei mir selber. Aber dann sah, dass der Pastor von schon von etlichen Personen umringt war. Das konnte lange dauern! Ich fühlte mich auf einmal recht müde. Plötzlich fiel mir ein Satz aus der Predigt des Pastors ein: "Wenn du ein Kind Gottes geworden bist, dann kannst du mit jedem Anliegen zu Jesus kommen. Er hört es und hilft."                                                                                     Warum eigentlich nicht?, dachte ich.  Und ich betete leise: " Jesus, ich werde jetzt in die Teestube gehen. Ich weiß nicht, ob ich etwas mit Okkultismus zu tun habe. Wenn ja, möge jemand in der Teestube davon zu sprechen beginnen. Dies wird mir dann ein Zeichen sein. - Amen!"

Wenig später betrat ich die Teestube. Sie war noch ziemlich leer. Die meisten Besucher des Gottesdienstes zogen es offensichtlich vor, sich anderswo im  Gebäude aufzuhalten oder waren schon gegangen. Ich holte mir am Ausschank erst einmal einen Tee und harrte der kommenden Dinge.


   

 

                         Die Erleuchtung

 

Es dauerte  nicht lange, bis ein junger Mann hereinkam. Er blickte sich kurz und ging dann freudig auf die junge Frau am Ausschank zu : "Hallo Silke, schön dich zu sehen." Silke lächelte zurück:" Uli, du hier im Düsseldorf. Missioniert ihr jetzt hier auf dem Kirchentag?"

"Ja, wir sind im Goethegymnasium untergebracht. Jeden Tag Aktionen in der Stadt. Das schlaucht ganz schön...!- Gibst du mir einen schwarzen Tee?" Sie schenkte dampfenden Tee in eine Tasse und reichte sie ihm: "Bist du nicht gerade im Ausland gewesen? Ich meine so etwas im neusten Mission aktuell gelesen zu haben. Oder Thomas hat das erzählt. Ich weiß nicht mehr so genau...!"

"Ja, stimmt", entgegnete Uli, " wir waren vor kurzem mit Jugend mit einer Mission in Ägypten ". Silkes Augen blitzten auf: "Ägypten! Das hört sich ja toll an!? "Na ja, ich weiß nicht." Uli blickte etwas skeptisch drein, "missionarisch gesehen ist das ein total harter Boden. Einmal kamen wir in einen Raum rein, da konnte man ganz klar okkulte Kräfte spüren..."

Weiter kam er nicht, denn das Stichwort war gefallen und ich schaltete mich ins Gespräch ein: "Entschuldigt, wenn ich euch unterbreche. Aber was bedeutet okkulte Kräfte?"

Uli und Silke hatten mich zuerst beide etwas irritiert angeschaut. Dann fragte er: "Warum willst du das denn wissen? Bist du ein Christ?" Stolz antwortete ich: "Ja, vor einigen Stunde bin ich einer geworden. - Der Pastor sprach vorhin von Okkultismus ... Ich weiß nicht, ob ich etwas damit zu tun habe!?"

Ein neuer Gast wollte einen Tee und Uli wandte sich mir nun seine ganze Aufmerksamkeit zu. Ich erzählte ihm nun grob von meinen esoterischen Erfahrungen in den zurückliegenden Monaten. Als ich das Schreiben mit dem Tischchen  erwähnte, unterbrach er mich: "Das ist schwarze Magie. Das gehört eindeutig in den Bereich des Okkultismus".

Nun geriet in helle Aufregung. Hatte ich es doch geahnt, dass damit etwas nicht stimmte! Aber Uli sprach schon weiter: "Weißt du, ich bin da eigentlich der falsche Gesprächspartnerpartner für dich. Da vorne", er zeigte auf einen Mann mittleren Alters im hinteren Bereich der inzwischen gut gefüllten Teestube, " sitzt der Mike. Er hat früher sich selbst mit solchen Dingen beschäftigt Mit dem solltest du einmal darüber reden. - Komm, ich stell dich ihm vor!"

Wir gingen hinüber zu jenem Mike. Nach einer kurzen Begrüßung und ein  paar erklärenden Worten von  Uli bot er mir den Stuhl neben sich an. Er war ein etwa 40 jähriger Mann und mir auf Anhieb sympathisch. Und so setzte mich neben ihn und begann in geraffter Form von  meinen esoterischen und okkulten Erfahrungen zu erzählen.


Mike hatte ruhig zugehört und als ich geendet hatte, sagte er  in recht ruhigem Ton: "Tja, da bist du in eine üble Sache hineingeraten. Das schreibende Tischchen  ist eine Form des Spiritismus….  Schwarze Magie! Ich selber habe mich mehr mir weißer Magie beschäftigt … aber im Grunde stammt beides aus einer Quelle-Du hattest mit Dämonen, mit bösen Geistern zu tun."

Er hatte es kaum ausgesprochen, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ein riesiger Kronleuchter ging in meinem Kopf an und mit einem Mal begriff ich alle Ungereimtheiten der letzten Tage. Ich war nicht mit meinen verstorbenen Verwandten, sondern mit bösen Geistern in Kontakt gewesen.

Für einen Moment fuhr mir der Schreck in alle Glieder. Ich sagte laut: „Das gibt es doch nicht!“ Mike nickte verständnisvoll: „Doch, das gibt es! Der Teufel ist recht listig im Fallenstellen!“ Dann aber lachte er: “Aber jetzt bist du auf der sicheren Seite. Ein Jünger Jesu!“
Und nach diesen Worten entspannte ich mich wieder etwas.

Die Erkenntnis, in den zurückliegenden Monaten einen jenseitigen Kontakt mit bösen Geistern gehabt zu haben, war ziemlich schockierend und ernüchternd für mich. Ich war wirklich ohne jedweden Zweifel überzeugt gewesen, dass ich  es mit meinen geliebten verstorbenen Verwandten zu tun gehabt hatte. Wie hatte ich mich nur so irren können?

"... muss etwas geschehen!" - hörte ich Mike sagen. Erst jetzt merkte ich, dass ich ihm gar nicht mehr zugehört hatte. Ich war tief in meine eigenen Gedankenwelt abgedriftet. “Ja, was denn?", fragte ich leicht verwirrt nach. "Diese Geister sind mit Sicherheit noch in deiner Wohnung. ... Die müssen da rausgebetet werden. Am besten wir fahren gleich hin und führen diese Aktion durch" , schlug er vor.  

Die Geister waren also noch in meiner Wohnung. Na klar! Warum sollten sie auch gegangen sein!? Ohne weiter darüber nachzudenken stimmte ich zu: „Gut ich bin einverstanden!“

              

           
     Eine beängstigende Nacht

Etwa zehn Minuten später saßen wir zu dritt in Ulis Auto und fuhren in Richtung meiner Wohnung. Als wir am Haus eintrafen, war bis auf das Licht am Eingangsbereich alles dunkel. Meine Vermieter scheinen schon zu schlafen, stellte ich erleichtert fest. Eine Sorge weniger! Sie mussten ja nicht unbedingt etwas von der Geisteraustreibung mitbekommen.

Auf der Fahrt hatten die Beiden mir kurz erklärt, was sie zu tun beabsichtigten.. "Wir werden den geistern im Namen Jesu gebieten, deine Wohnung für immer zu verlassen. Laut Bibel haben wir als Jünger Jesu die Vollmacht dazu", erklärte Mike.

Ein bisschen mulmig war mir bei der Sache schon, aber Mike und Uli schienen sich ihrer Sache recht sicher zu sein: "Mach dir keine Sorgen! Es wird schon alles gut gehen. Da wir im Namen Jesu handeln, können uns die Geister nichts anhaben!"

Leise schlichen wir an der Wohnung meiner Vermieter vorbei und gingen Treppe hinauf zu meiner Wohnung im ersten Stock. "Wohnt hier noch jemand im Haus?" fragte Uli und wies auf die weiter nach oben führende Treppe.

Ich schüttelte den Kopf. "Es gibt noch eine kleine Mansardenwohnung, aber die ist zur Zeit nicht vermietet." Ich schloss die Wohnungstüre auf und wir traten ein.

Sofort blickte ich mich in der Wohnung um und stellte erleichtert fest, dass alles wie gewohnt an seinem Platze war. Es hatte sich also während meiner Abwesenheit kein weiterer Geisterspuk ereignet. "Gut", sagte Mike zu Uli, "dann lass uns beginnen!" Uli nickte kurz und  beide begannen leise betend in der Wohnung umherzugehen.

 

Nach etwa ein er Minute begannen sie dann lauter in den Raum hinein zu sprechen: "Im Namen befehlen wir jedem fremden Geist die Räumlichkeiten und das Haus augenblicklich zu verlassen. Weichet im Name Jesu!"

Dieser Befehl wurde mehrfach und nun doch in einer Lautstärke wiederholt, der mich leicht beunruhigt an meine Vermieter denken ließ. "Ach, egal!" dachte ich " wenn sie davon wach werden, kann ich es auch nicht ändern!"

"Wir erklären euch im Namen Jesu, dass ihr jegliches Anrecht auf Heiner verloren habt", hörte ich Uli sagen. Er hielt sich gerade in der Nähe des Küchentisches auf, wo ich zumeist meine spiritistischen Sitzungen abgehalten hatte.

“Er ist jetzt ein Kind Gottes! - Im Namen Jesu verbieten wir euch jede weiteren zukünftigen Aufenthalt in dieser Wohnung!", fügte Mike hinzu. Dann beteten beide wieder leise, bis Mike plötzlich sagte: "Ich glaube, es reicht! Die Wohnung ist jetzt wieder frei von Geistern!"


Nach einem kurzen gemeinsamen Dankgebet fragte Mike mich plötzlich: "Sag mal, Heiner, was ist eigentlich mit den die Sachen, mit denen du den Spiritismus betrieben hast? Könnten wir die mal sehen?"

Ich holte das kleine Tischchen und die beschriebenen Papierbögen aus meinem Schrank hervor, und platzierte alles auf dem Wohnzimmertisch. Uli staunte nicht schlecht: "So viel haben die geschrieben. Mein Gott...!"

"Du hattest doch auch von esoterischen Büchern gesprochen“, forschte Mike nach. „Ah ja,“ sagte ich und befand mich schon wieder auf dem Weg zu meinem Schrank. Wenig später lagen auch diese Bücher auf dem Tisch. "Weißt du was", sagte Mike, " der ganze Kram sollte hier aus der Wohnung verschwinden. Wenn du einverstanden bist, nehmen wir alles mit und entsorgen es."

                    
Als wenig später alles in zwei blauen Müllsäcken verstaut war, drängte Uli zum Aufbruch: " Es ist schon spät und wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns! Also, Heiner, mach es gut. Es war nett, dich kennen gelernt zu haben!"

Ich schaute ihn erschrocken an und sagte dann spontan: „Ich kann heute Nacht nicht hier übernachten!“ Beide schauten mich überrascht an. „Aber die Geister sind fort!“, meinte Mike. „Du brauchst keine Angst mehr zu haben.“

„Trotzdem,“ beharrte ich, „ich kann heute Nacht nicht hier bleiben. Kann ich nicht bei euch im Goethegymnasium übernachten. Beide schauten sich kurz an, dann meinte Mike: „Hast du einen Schlafsack und eine Isomatte?“ Ich nickte und er lächelte: „Gut, einverstanden! Aber beeil dich, wir wollen los!" Ich war erleichtert und begann meine Sachen zu packen.

Wenig später saßen wir wieder im Wagen und fuhren Richtung Innenstadt, mit einem Schlafsack, einer Isomatte, einer kleinen Sporttasche und zwei blauen Müllsäcken im Kofferraum.

 

Als wir etwa gegen 1 Uhr im Goethegymnasium, dem Nachtquartier von Uli und Mike  ankamen, war es still und dunkel im Schulgebäude. "Du schläfst am besten bei uns im Leiterzimmer", meinte Mike.  

Im zweiten Stockwerk am Ende eines Ganges stoppten die Beiden
plötzlich und vor einer eine Türe "So, jetzt ganz leise. Die Anderen schlafen bestimmt schon alle.. - Such dir einen freien Platz und leg dich dann dorthin", flüsterte Uli. Dann öffnete er die Türe und wir schlichen in ein leer geräumtes Klassenzimmer hinein.

Im Mondlicht konnte man verschiedene Einzelheiten gut erkennen. Über den ganzen Raum verteilt lagen Menschen in Schlafsäcken. Hier und da vernahm man ruhiges, tiefes Atmen. Jemand drehte sich auf die andere Seite.

Ich platzierte mich mit Schlafsack und Isomatte fast genau in der Mitte des Raumes. Gerade als ich in meinen Schlafsack schlüpfen wollte, sah ich ganz in meiner Nähe einen Mann halb aufgerichtet in seinem Schlafsack sitzen. Er starrte mich leicht irritiert an.

"Hallo", grüßte ich leise hinüber." Ich bin mit Mike und Uli gekommen". Er schien einen Moment nachzudenken, dann sagte er: " Welcome! Have a nice sleep!" und verschwand wieder in seinem Schlafsack.

Erst jetzt merkte ich, dass ich kein Kopfkissen mitgenommen hatte. Ich nahm die mitgenommenen T-shirts und ein Handtuch aus meiner Sporttasche heraus und bastelte mir  ein provisorisches Kopfkissen. Das war nicht optimal, aber besser als gar nichts. Endlich hinlegen!, dachte ich erschöpft. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann war ich eingeschlafen.


                                   *

Plötzlich, mitten in der Nacht, wachte ich auf und war mit einem Schlage hellwach. In der Magengegend verspürte ich ein mulmiges Gefühl. Irgendetwas schien nicht zu stimmen.

Vorsichtig schaute ich mich im Klassenraum um. Nichts hatte sich verändert. Alles war noch wie beim Einschlafen, lediglich der Mond war etwas weitergewandert. Er schien jetzt nur noch in die vordere Hälfte des Raumes.

Gerade als ich mich wieder in meinen Schlafsack einrollen wollte, vernahm ich plötzlich eine leise Stimme in meinem Ohr:" Steh auf!" Die Stimme war nicht akustisch Natur, aber trotzdem klar vernehmbar gewesen.

Irritiert kroch ich aus meinem Schlafsack und stand nun mitten im Raum. "Geh auf die Toilette!" vernahm ich erneut die Stimme in meinem Ohr. Und so ging ich leise hinaus auf den Gang und versuchte mich erst einmal zu orientieren. Auf die Toilette! Aber wo war die? Ich entschied mich für den kurzen Gang direkt vor mir. Und tatsächlich, als ich um die Ecke bog, sah ich dann zwei Toilettentüren. Ich öffnete die mit der Aufschrift „Jungen“.

Es war ein übliche Schultoilette und außer mir niemand schien anwesend zu sein. Ich begann mich schon zu fragen, was ich hier jetzt sollte,  als ich die Stimme plötzlich sagen hörte: "Dreh dich um!" Gehorsam drehte ich mich langsam um und schaute auf die direkt vor mir stehende Wand.

Es traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Fassungslos starrte ich die Wand an. Wie war das möglich? In Augenhöhe stand mit dickem, schwarzem Filzstift geschrieben: Willi grüßt dich!

So viele Mal hatte ich diesen Satz in den zurückliegenden Wochen gelesen. Fast jedes Mal zu Beginn oder am Ende einer Sitzung mit meinen „Verwandten“. Ich rang eine aufkommende Panik nieder, verließ ruhigen Schrittes die Toilette und ging wieder zurück in das Schulzimmer. Was soll ich jetzt tun?, fuhr es mir durch den Kopf

                               *

Ich lag mit im Nacken verschränkten  Armen in meinem Schlafsack  und versuchte nachzudenken. Wie war die Schrift an die Wand gekommen?  Ist das nur der zufällige Klospruch eines Schülers, den die Geister jetzt benutzt haben? Oder sind sie es selber gewesen?

Mein Blick war schon eine Zeitlang auf die mondbeschienene Wand mit der großen Schultafel gerichtet. Aber es war eher ein leerer Blick gewesen. Aus irgendeinem nicht näher bestimmbaren Grund begann ich auf einmal, sie genauer zu betrachten. Bevor ich sie plötzlich mit Entsetzen anstarrte. War das möglich? Oder litt ich vielleicht schon an überreizten Nerven? Dort vorne an der Wand waren die Schatten von Fensterbalken abgebildet und das Wort

                            tot

war deutlich zu lesen.  Ich spürte Grauen in mir aufsteigen  und ich sprang aus meinem Schlafsack. Dann ging ich hinüber zu Mike und weckte ihn.

Mike kannte ja halbwegs meine Vorgeschichte und so brauchte ich nicht viel zu erklären. Ich zeigte ihm erst das Wort "tot" an der Wand und führte ich ihn in der Toilette. Dort zeigte ihm "Willi grüßt dich" und erklärte ihm in kurzen Worten den Zusammenhang. Als ich fertig war, nickte er kurz und sagte dann:" Komm, lass uns beten!"

Und so stellten wir uns auf dem Gang in eine Fensterecke und Mike begann zu beten: "Herr Jesus, wir verstehen nicht, wie die Geister dies bewerkstelligt haben. Aber dies ist auch egal! Wir möchten dich bitten, dass DU sie stoppst und diesem Spuk ein Ende bereitest. Schenke bitte Heiner einen guten ungestörten Schlaf. - Amen!". "Amen!" schloss ich mich an.

Zurück im Klassenzimmer sagte ich zu Mike:  „Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen."  „Schon gut," meinte er, " das war richtig! Und nun leg dich hin. Der Spuk ist vorbei. Du wirst jetzt gut schlafen können." Und so war es dann auch.

                   

                        

 

               Gute Neuigkeiten

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte mich einigermaßen erholt. Die meisten waren schon aufgestanden und immer wieder verschwanden einige mit Handtuch und Kulturbeutel vermutlich in Richtung Wasch-/Duschraumes.

Mike kam schon komplett angezogen zu mir herüber. "Guten Morgen, Heiner! - Na, wie hast du geschlafen?", wollte er wissen.  "Ja, ganz gut! Das Gebet hat geholfen!" entgegnete ich. Er wechselte das Thema: "Weißt du schon, was du heute machen willst?"

Ich dachte kurz nach: "Nein, ich habe eigentlich keinen Plan!" "Wie sieht es mit Frühstücken aus? Du könntest mit Uli und mir mit ins Jesushaus kommen. Dort ist ein Frühstückstisch für uns Leiter aufgebaut. Das ist sicher kein Problem, wenn du noch dazukommst" schlug er vor. "Keine schlechte Idee!", stimmte ich zu und so machten wir uns wenig später zu dritt auf den Weg ins Jesushaus.

Wie Mike gesagt hatte war hier ein reichhaltiges Frühstücksbüfett aufgebaut worden. Ich packte mir einige Sachen auf einen Teller, nahm mir einen Kaffee dazu und  suchte mir einen Sitzplatz.

Ich hatte gehofft, noch mich ein wenig mit Mike und Uli unterhalten zu können, aber sie waren gedanklich schon bei der Planung ihren bevorstehenden missionarischen Einsätzen im Stadtgebiet.

Sie wollten an verschiedenen Plätzen in der Stadt mit ihren jugendlichen Gruppen kleine Theaterstücke aufführen und anschließend öffentlich predigen. "Du kannst gerne mitkommen," meinte Uli zu mir, "aber wir können uns da nicht groß um dich kümmern.“

Als er sah, dass ich ein wenig unschlüssig war, meinte er: „Aber du könntest auch hier im Jesushaus bleiben. Es finden den ganzen Tag über Veranstaltungen statt. Vielleicht etwas nützlich machen und auch den ein oder anderen kennen lernen." Und so blieb ich erst einmal im Jesushaus.

                                  *

Die nächsten beide Tage verbrachte ich hauptsächlich im Jesushaus. Nur zum Schlafen begab ich mich nachts ins Goethegymnasium. Es waren zwei Tage prall gefüllt mit Erlebnissen und Begegnungen. Aber dann am Sonntagmittag endete der Kirchentag.

Es lagen fünf Tage hinter mir, die mein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatten. Ich war in tiefes, schäumendes Gewässer geraten und hatte um mein Leben gefürchtet, als mich plötzlich eine große starke Hand ergriff. Sie zog mich aus tobenden, tosenden Wasser heraus und trug mich ans Land. Ich war in Sicherheit! Gott sei Dank! Niemals würde ich diese fünf Tage vergessen. Sie teilten mein Leben von nun an in ein Vorher und ein Danach!

                          *

Nachdem ich mich von Mike und Uli verabschiedet hatte, fuhr ich mit meinem Fahrrad nach Hause.  Auf der Treppe zu meiner Wohnung wurde es mir doch noch einmal etwas mulmig. Aber dann schloss ich einfach die Wohnungstüre auf und ging hinein.

 

Drinnen war alles ruhig und völlig normal. Alles war im normalen Zustand und es herrschte auch keine bedrückende Atmosphäre. Langsam entspannte ich mich wieder, und stellte Sporttasche und Schlafsack auf den Boden ab.Dann legte ich mich erst einmal auf das Sofa und begann zu dösen.

 

 

So mochte ich vielleicht zwei Minuten gelegen haben, als es plötzlich schellte. Ich fuhr hoch! Wer kann das denn sein?  schoss es mir durch den Kopf. Ohne noch weiter darüber nachzudenken stand ich auf und betätigte den Türsummer.Die Eingangstüre wurde aufgedrückt und jemand kam  die Treppe hoch.

 

Ich öffnete die Wohnungstüre. Vor mir stand mit weißer Hose und einem kurzärmeligen lila Hemd, also in den Farben des Kirchentages, ...JÜRGEN! Er grinste mich an: "Na, was machst du denn für ein Gesicht! Hast du ein Gespenst gesehen?"

Jürgen! Ihn hatte ich ja in all dem Trubel der letzten Tage vollständig vergessen. Er lebte. Gott sei Dank! Die Geister hatten also gelogen!
Jetzt grinste ich auch: " Komm rein! Es gibt gute Neuigkeiten!"

                              ENDE



  

 

 

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